Afghanistan-Veteran: Nichts war umsonst
Oberst a. D. Hermann Meyer erinnert sich an seine Zeit am Hindukusch zurück und glaubt, dass der Einsatz wichtig war. Im Interview spricht er über seine Begegnungen mit Menschen und äußert seine Sorgen über die Zukunft Afghanistans.
Westerwaldkreis. Seit August steht Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban. Oberst a. D. Hermann Meyer hat als Angehöriger der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) drei Einsätze in Afghanistan erlebt, die jeweils zwischen vier und sechs Monaten gedauert haben. Zu seinen Aufgaben gehörten unter anderem die Ausbildung und Beratung der afghanischen Armee sowie praktische Hilfe vor Ort.
Er ist Mitglied des Kirchenvorstandes der Evangelischen Kirchengemeinde Rückeroth-Herschbach, engagiert sich in der „Cornelius-Vereinigung e. V. - Christen in der Bundeswehr“, bei der „Operation Centurion - Bibeln für Soldaten“ und bei „Military Ministries International“. Im Interview spricht er über seine Erinnerungen an die Zeit in Afghanistan und erklärt, warum er sich nach der Machtübernahme der Taliban große Sorgen um die Zukunft des Landes macht.
Ihr erster Einsatz in Afghanistan war im Jahr 2002. Wie sind Sie als Soldat von den Einheimischen wahrgenommen worden?
In den beiden ersten Einsätzen ist uns die Bevölkerung in unserem Verantwortlichkeitsbereich – das waren meist Paschtunen und Hazara – mit spontaner Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Verbindlichkeit und spürbarer Sympathie begegnet. Viele sahen in uns Ermöglicher einer besseren Zukunft, weil wir verhinderten, dass die Taliban mit ihrer religiös-fanatischen und oft gewalttätigen Unterdrückung der moderat-muslimischen Bevölkerung an die Macht zurückkehrten. Das schätzten die Menschen sehr. Zudem übernahmen wir ganz praktische Aufbauhilfe, wenn staatliche oder nicht-staatliche Organisationen wegen kritischer Sicherheitslagen in einer Region zeitweise nicht mehr helfen konnten. In diesen Situationen waren wir als Soldaten beides: Garanten der Sicherheit und Träger des Wiederaufbaus. Doch das Vertrauen der Bevölkerung war fragil. Denn die Menschen wussten, dass die internationalen Truppen nicht ewig im Land bleiben würden. Und als die Gefechte gegen die sogenannten Irregulären Kräfte heftiger wurden, ahnten viele, dass die afghanische Armee und Sicherheitskräfte dieser Bedrohungslage nur schwer gewachsen sein würden. Wir und andere Nationen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Waffen, Ausrüstung und militärisch "handwerkliche" Fähigkeiten allein nicht ausreichten, um eine gute Armee zu prägen. Das soldatische Selbstverständnis, sich selbst in Gefahr zu begeben, um andere zu schützen und ein gefestigtes inneres Gefüge innerhalb der Armee sind unabdingbar, um im Einsatz widerstandsfähig zu bleiben. Der Staat - die Regierung und die Bevölkerung - muss hinter seinem Soldaten stehen, damit diese bereit sind, ihr Leben einzusetzen. Die Loyalität muss gegenseitig sein. Nur so können Streitkräfte bei Belastung, Rückschlägen und über eine lange Zeit hinweg durchhalten.
Welche Eindrücke sind Ihnen in Afghanistan besonders in Erinnerung geblieben?
Ich habe viele Gesichter vor meinem inneren Auge: von Menschen, mit denen ich in drei Einsätzen innerhalb von zehn Jahren eng zusammengearbeitet habe. Gesichter von Sprachmittlern in Faisabad, von landeskundlichen Beratern in Kunduz, von afghanischen Offizieren und Soldaten im gesamten Nord- und Ostbereich. Auch Gesichter von Kindern, die mir am Signal Hill in Kabul begegnet sind und irgendwo etwas Englisch gelernt hatten, sodass wir uns radebrechend miteinander verständigen konnten. Ich erinnere mich deutlich an das stark vernarbte und von Brandmalen gekennzeichnete Gesicht des afghanischen Mitarbeiters einer deutschen Hilfsorganisation, der als ehemaliger Mudjaheddin in den 1980er-Jahren gegen die Sowjets gekämpft hatte, lebensbedrohlich verwundet und später in Deutschland medizinisch versorgt wurde. Er sagte mir, dass er für das Land, das ihm sein Leben wiedergeschenkt hatte, große Dankbarkeit empfindet und dass er durch seinen persönlichen Einsatz den Deutschen Gutes zurückgeben wolle. Und ich sehe das Gesicht eines plötzlich aus dem Nichts in einer Spitzkehre der Serpentinen hinauf zum Salang-Pass auftauchenden alten, bärtigen Afghanen, der mich freundlich fragte, ob er helfen könne. Ich hatte mit meinem Fahrzeug eine Panne und stand im wadenhohen Schnee der Passstraße über den Hindukusch. Als meine Besatzung und ich freundlich ablehnten, hat der Mann uns spontan zum Tee eingeladen, den er in einer alten, zerbeulten Thermoskanne bei sich trug und aus einem Stoffbeutel zog. Unglaublich! Wir haben nach dem Radwechsel dann zusammen Tee und Dosen-Limo getrunken und Schokolade und englischen Weingummi miteinander geteilt.
Sie tragen das Kreuz der Evangelischen Militärseelsorge an Ihrer Erkennungsmarke. Wie haben die Einheimischen darauf reagiert?
Besonders eindrucksvoll war ein Erlebnis, das ich mit einem Milizkommandanten eines regierungstreuen, ehemaligen Warlords hatte. Er war selbstverständlich Moslem. Während eines unserer regelmäßigen Treffen zur Sicherheitskoordinierung starrte der Mann immer wieder auf meine Brust. Am Ende des Treffens ließ er mir über meinen Sprachmittler sagen: „Es ist gut, mit jemandem Pläne zu machen, der ebenfalls an Gott glaubt.“
Was erwartet die Menschen Ihrer Ansicht nach unter einem erneuten Taliban-Regime?
Aus mehr als 5000 Kilometern Entfernung fehlen mir solide aktuelle Erkenntnisse. Ich glaube aber, die Menschen erwartet nicht Gutes. Für mich ist aus der öffentlichen Berichterstattung nicht zu erkennen, dass die Taliban heute wesentlich anders sind als im Sommer 2001. Eine meiner ersten Patrouillenfahrten 2002 führte mich ins Kabuler Stadion. An manchen Stellen des Sandplatzes war die Erde aufgelockert und hatte eine andere Farbe – ein grausiger Hinweis darauf, was dort passiert sein könnte. Man muss jetzt genau hinschauen, ob die offiziellen Medien-Erklärungen der Taliban mit den nachfolgenden Taten übereinstimmen. Gutes Regieren braucht ein grundlegend verändertes Menschen- und Gottesbild und ganz andere Fähigkeiten und Stärken als Fanatismus, Terror, Gewalt und Willkür.
In den Medien wird davon gesprochen, dass die vergangenen 20 Jahre für Afghanistan umsonst waren. Sehen Sie das genauso?
Bei solchen Äußerungen werde ich sehr leidenschaftlich. Nichts war umsonst. Die Bundeswehr hat in diesen zwei Jahrzehnten des wortwörtlich stark umkämpften Friedens mehr als 50 Menschenleben und ein Vielfaches davon an seelischen und körperlichen Schäden gezollt. Das ist alles andere als umsonst - im Gegenteil: es ist sehr, sehr teuer; für uns Deutsche ebenso wie für Soldat*innen anderer Nationen, die dort Leib und Leben gelassen haben. Wer also so etwas sagt, weiß meiner Ansicht nach überhaupt nicht wovon er oder sie spricht.
War der Einsatz vergebens?
Auch das glaube ich nicht. Denn währenddessen ist eine ganze Generation afghanischer Menschen seit ihrer Geburt in Frieden und in Freiheit aufgewachsen. Kinder wurden geimpft und medizinisch besser versorgt; Mädchen und Lehrerinnen konnten öffentlich und ohne Angst vor Bespitzelung und vor der gewalttätigen Religionspolizei zur Schule und in die Ausbildung gehen. Eltern, Großeltern und Urgroßeltern haben medizinische und materielle Versorgung erhalten und die berüchtigten Gräuel der Taliban nicht durchleben müssen. Dies ist alles nur deshalb ermöglicht worden, weil 20 Jahre lang Soldat*innen vieler ausländischer Nationen ihr eigenes Leben und ihre eigene Gesundheit eingesetzt haben – und nicht wenige davon dies dabei verloren haben. Ich muss an ein Johannes-Wort denken. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben gibt für seine Freunde.“ Deshalb stehe ich gerade als christlicher Soldat mit ganzem Herzen hinter diesem Einsatz. Meine Antwort lautet also eindeutig: Nein, der Einsatz war nicht vergebens! Er hat vier Generationen von Menschen gezeigt, wie Leben gelingen kann. Diese drei Afghanistaneinsätze sind für mich aus christlicher Prägung und Motivation heraus erfolgt.
Das Interview führte Peter Bongard (PM)
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