Hartz IV: Der Geruch von Schweiß und Armut
„In was für einer Republik leben wir hier denn?“ - Diese Frage stellte sich eine Reihe von Zuhörern, die bei einer vom Forum Soziale Gerechtigkeit und dem Kreisverband Westerwald der Arbeiterwohlfahrt (AWO) veranstalteten Lesung unter dem Titel „Ich bin dann mal Hartz IV“ den Worten von Brigitte Vallenthin lauschten.
Wirges. Die Autorin des gleichnamigen Buches, nach Jahren der Arbeit als selbständige freiberufliche Journalistin durch Krankheit und Arbeitsunfähigkeit erwerbslos geworden, schildert darin ihre eigenen Erfahrungen, die sie während ihrer fünfjährigen Odyssee als Empfängerin der „Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige“ mit den zuständigen Behörden gemacht hat.
Forumssprecher Uli Schmidt hatte Autorin und Zuhörer zuvor begrüßt. Die Enttäuschung der Sozialverbände über den Hartz-IV-Kompomiss sei verständlich, meinte er, auch wenn er selbst Hartz IV nicht von vorneherein grundsätzlich verdamme. Die Diskussion um diese Reform des Sozialgesetzbuchs hinterlasse aber in der Öffentlichkeit immer mehr den Eindruck, als ob die Gesellschaft sich Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness gegenüber den Schwachen nicht mehr leisten könne.
Der neue Geschäftsführer der Westerwälder AWO, Thorsten Siefert, erläuterte die Arbeit seines Verbandes im Zusammenhang mit dem Thema Arbeitsförderung und wertete die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter Westerwald als gut. Zugleich bedauerte er, dass nun auch im Westerwald die so genannten „Arbeitsgelegenheiten“ (AGH), besser bekannt als „Ein-Euro-Jobs“, weggefallen seien. Die AWO hatte „Ein-Euro-Jobber“ seit Jahren für ihr erfolgreiches Projekt "Alltagshelfer" eingesetzt. Die "Alltagshelfer" unterstützten bedürftige Menschen, darunter überwiegend Senioren, kostenlos bei der Erledigung ihrer lebensnotwendigen Tätigkeiten. „Wir bemühen uns derzeit, die Versorgung der Klienten auch weiterhin sicherzustellen“, betonte Siefert.
Wie es diesen „Klienten“ ergehen kann, sofern sie „Kunden“ bei einem so genannten Jobcenter sind, berichtete anschließend Brigitte Vallenthin, die Auszüge aus ihrem Buch „Ich bin dann mal Hartz IV“ vorlas. „Wenn Ihnen kalt ist, wickeln Sie sich in eine Decke“ war beispielsweise die Antwort ihres Jobcenter-Betreuers auf die Frage nach der Zahlung des Heizkostenzuschusses, gegeben in einem Kasernenhofton, mit dem ihr auch deutlich gemacht wurde, „dass ich mich von nun an in staatlicher Gewalt befand“.
Drohgebärden, entwürdigendes Verhalten, ständige Verfügbarkeit („Sie dürfen die Stadt nicht verlassen, es sei denn, ich habe es Ihnen ausdrücklich erlaubt“) und die Zuteilung von Gutscheinen als Mittel des Psychoterrors konnten Brigitte Vallenthin jedoch nicht „klein kriegen“. Verweigerte Stromkostenzahlungen endeten in Stromsperren durch den städtischen Energielieferanten und dazu, dass ihre rationierten Lebensmittel im Kühlschrank verdarben. Angesichts stillstehender Waschmaschine und sich türmender Wäscheberge habe sie oft genug Angst davor gehabt, dass ihr der „Geruch von Schweiß und Armut“ irgendwann unvermeidlich anhänge. Doch sie wehrte sich, studierte die gesetzlichen Grundlagen im Sozialgesetzbuch, legte sich mit ihrem „Betreuer“ an und Widersprüche ein gegen verweigerte Zahlungen, zu niedrige Sätze. Ließ damit zu, dass ihr Leben „jahrelang von Paragraphen und Gerichtsurteilen bestimmt war“.
Als Folge ihrer Gegenwehr hat sie Hungerzeiten überstehen müssen, musste ihre Wohnung räumen, sollte „vorübergehend bis zur Zuweisung in eine von der Stadt ausgesuchte Wohnung“ die „zumutbare“ Unterbringung in einer Frauenunterkunft der Heilsarmee akzeptieren und schließlich auch noch den Fehlbetrag zwischen Heizkostenzuschuss und tatsächlichen Kosten durch ein Darlehen beim Energieversorger finanzieren. Dass es ihr außerdem kaum noch möglich war, am kulturellen Leben in ihrer Stadt teilzunehmen, empfand Brigitte Vallenthin als „die traurigste Entwürdigung durch Hartz IV“.
Inzwischen engagiert sich die Autorin als Sprecherin der „Hartz-IV-Plattform“ auch für andere Betroffene und versucht, ihre bescheidene Rente durch journalistische Tätigkeiten aufzubessern. Ihre Schilderungen machten auch in der anschließenden engagieren Diskussion deutlich, dass sich von staatlichen und halbstaatlichen Institutionen schickanierte Hartz-IV-Bezieher wehren müssen und können, indem sie sich mit dem Sozialgesetzbuch vertraut machen. Im Jobcenter werde nur nur respektiert, wer seine Rechte und die gesetzlichen Grundlagen kenne, hieß es von Seiten Betroffener.
"Folge verfehlter Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik"
Hartz IV sei nur die Folge einer verfehlten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, meinten andere Diskussionsteilnehmer. Zu viele Produktionsarbeitsplätze seien abgebaut und in Billiglohnländer ausgelagert worden, vielfach werde Arbeit nur noch mit Billiglöhnen bezahlt, die dann durch Sozialleistungen aufgestockt werden müssten. Die Erwartung, allein mit höheren Bildungsabschlüssen ein Heer von „hochleistungsfähigen Besserverdienenden“ heranziehen und damit verloren gegangene Arbeit ersetzen zu können, sei illusorisch.
Es sei Zeit, völlig neue Perspektiven für einen gesellschaftlichen Wandel zu entwickeln, meinten andere. Es müsse endlich offen und vorurteilsfrei über die Probleme des Kapitalismus und das davon bestimmte Finanzsystem diskutiert werden. Dazu gehöre auch das Thema „Bedingungsloses Grundeinkommen“, betonte Brigitte Vallenthin.
Als weiteres Argument für den Niedergang der bundesdeutschen Arbeitswelt nannte ein Zuhörer den enormen Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften und die mangelnde Bereitschaft von Arbeitnehmern, sich für ihre Rechte zu engagieren. Kritik gab es nicht zuletzt auch am System sozialer Hilfsangebote wie den „Tafeln“, die in ihren Ausgabestellen Bedürftige mit gespendeten Lebensmitteln versorgen. Es sei im Grunde eine „Bankrotterklärung des Sozialstaates“, wenn Hartz-IV-Empfänger und andere Betroffene mit Lebensmitteln versorgt würden, deren Haltbarkeitsfrist ablaufe. Diese Art der – sicher gut gemeinten – Hilfe führe zu Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung jener, die der Sozialstaat doch eigentlich integrieren möchte. Ebenso kritisiert wurden auch Sozialkaufhäuser, in denen das Kaufverhalten Betroffener entgegen anderslautender Behauptungen offenbar kontrolliert und die Daten der Kunden sogar an Dritte weitergegeben würden, meinte eine Diskussionsteilnehmerin.
Uli Schmidt, Sprecher des Forums Soziale Gerechtigkeit, wies zum Abschluss darauf hin, dass die Diskussion in anderen Veranstaltungen des Forums fortgeführt werden soll. So werden bereits am 8. April in Begleitung des rheinland-pfälzischen Staatssekretärs für Arbeit und Soziales, Christoph Habermann, drei Unternehmen im oberen Kreisteil besucht, die sich besonders bei der Beschäftigung von älteren, behinderten und jugendlichen Arbeitssuchenden engagieren. Es gebe im Westerwald durchaus viele gute Beispiele für Firmen, die auch benachteiligten Personengruppen auf dem Arbeitsmarkt eine Chance geben, so Schmidt. (art)
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