Werbung

Nachricht vom 05.06.2022    

Westerwälder Literaturtage boten „Zukunftsmusik“ mit Katerina Poladjan in Hachenburg

Von Helmi Tischler-Venter

Bei der Lesung in Hachenburg füllten die interessierten Zuhörer den Vogtshof, was die Veranstalter - Stadtbücherei Hachenburg und Hähnelsche Buchhandlung im Rahmen der Westerwälder Literaturtage 2022 - sehr freute. Das Thema des diesjährigen Kultursommers Rheinland-Pfalz lautet „Ostwind“, hochaktuell und brisant und kompetent vertreten durch die russischstämmige Autorin.

Katerina Poladjan las in Hachenburg. Fotos: Helmi Tischler-Venter

Hachenburg. Thomas Pagel von der örtlichen Buchhandlung war „stolz, dass ich gerade sie ausgesucht habe“, denn die Schriftstellerin Poladjan wurde zwischenzeitlich mit einer ganzen Reihe von Auszeichnungen geehrt. In profunder Kenntnis russischer Literatur entwickelte die Autorin einen ganz eigenen, packenden Erzählstil. Er veranlasst den Leser, zwischen den Zeilen zu lesen und dabei immer die Politik der Sowjetunion als den Alltag bestimmenden Dauernebel zu bedenken.

Das Buch „Zukunftsmusik“ spielt am 11. März 1985 in einer sowjetischen Kommunalka. In dieser ehemaligen großbürgerlichen Wohnung leben viele Menschen auf engem Raum, die sich eine Küche mit mehreren Herden und eine Toilette mit persönlichen, an der Wand hängenden Klobrillen teilen. Dass sich etwas ändern kann, glaubt niemand mehr. In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben Großmutter Warwara, Mutter Maria, Tochter Janka und Enkelin Kroschka und weitere fünf Mietparteien und Kater Gagarin unter dem bröckelnden Stuck einer vergangenen Zeit. Sie alle tragen ihre Wünsche und Hoffnungen im Herzen, aber an eine Änderung der Lebenssituation glaubt keiner mehr wirklich. Sie wissen nicht, dass sie mit dem Trauermarsch, der anlässlich Konstantin Tschernenkos Ableben im Radio gespielt wird, ihre Zukunftsmusik hören, weil die Kommunistischen Partei der Sowjetunion bereits am nächsten Tag den 54 Jahre jungen Michail Gorbatschow zum Generalsekretär wählen wird.

Die Menschen in der Kommunalka führen ihr gleichförmiges Alltagsleben, während schmutziger Schnee auf der Straße das Ende des Winters anzeigt. „Was die Amerikaner vom Mond übrig gelassen hatten, hing schräg am Himmel.“ Und „unten nahm der Strom alles mit sich, auch die Zeit“.

Janka sieht ihre Tochter Kroschka nur selten, denn tagsüber prüft sie Glühbirnen und komponiert in Gedanken. Ihr Traum ist die Teilnahme an einem Konzert, aber ihre Mutter bezeichnet Jankas düstere Musik als „Geschrei“, denn „Janka konnte mit ihren Liedern Gedanken ausdrücken, die Maria in schlaflosen Nächten hatte.“

„Ein Scheißleben haben wir“, mault Mutter Maria, die es satthat, allein zu sein in einem Land, in dem es sehr viele Vorschriften, aber kaum Männer gibt, um anschließend eine Diskussion um die Frage: „Trauern Bäume?“ mit dem Ingenieur von nebenan zu führen. Dieser versucht, die Devotionalien seines Lebens in 60 sorgfältig beschriftete Kästchen eines selbstgebauten Regals zu archivieren. Er erzählt von seinem besten Freund aus der Studienzeit und dessen Freundin, in die er sich unsterblich verliebt hatte: „Ich wusste nicht, dass ein Mensch so schön sein kann.“ Es stellt sich im Roman heraus, dass der Freund sich als Denunziant erwies. Wegen seiner systemdestruktiven Liebesgedichte musste der Ingenieur sein Studium abbrechen, das er ein Jahr später wieder aufnehmen durfte, indem er sich selbst als KGB-Mitarbeiter verpflichteten ließ.



WW-Kurier Newsletter: So sind Sie immer bestens informiert

Täglich um 20 Uhr kostenlos die aktuellsten Nachrichten, Veranstaltungen und Stellenangebote der Region bequem ins Postfach.

Moderator Thomas Pagel forderte das Auditorium zu Fragen auf. In der Diskussion wies Katerina Poladjan, die 1971 in Moskau geboren wurde und seit 1979 in Deutschland lebt, darauf hin, dass sich in Russland keine Zivilgesellschaft bilden konnte aus der permanenten Angst um den Job. Diese Zeit, die die Menschen abstumpfen, aber nicht resignieren ließ, wirkt bis heute nach. Die Kommunalka steht als Metapher für die Sowjetunion, in der sehr viele Menschen untereinander lebten, die sich nicht nur eine Toilette, sondern auch eine Ideologie teilen mussten.

Die Hauptfigur Janka gehöre zur „vergessenen Generation“, für die der Aufbruch nur eine sehr kurze Zeitspanne war. Der Zusammenbruch des Systems in den 1990er Jahren führte zu Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Anarchie. Das, woran man die ganze Zeit glauben musste, war nichts mehr wert. Es entstand ein Identitätsvakuum, dessen Aufarbeitung ein Problem ist. „Im Dezember letzten Jahres wurde Memorial (internationale Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in Moskau) verboten, das war schlimm.“

Das Buch „Zukunftsmusik“ erschien am 23. Februar 2022, am nächsten Tag begann Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Dadurch erhält der Roman noch mehr Relevanz und für die Autorin noch mehr persönliche Tragik, denn ihre Mutter stammt aus der Ukraine. Im Buch und im aktuellen Leben steht nach allem die Frage: Was tun? (htv)


Lokales: Hachenburg & Umgebung

Jetzt Fan der WW-Kurier.de Lokalausgabe Hachenburg auf Facebook werden!

Weitere Bilder (für eine größere Ansicht klicken Sie bitte auf eines der Bilder):
   


Anmeldung zum WW-Kurier Newsletter


Mit unserem kostenlosen Newsletter erhalten Sie täglich einen Überblick über die aktuellen Nachrichten aus dem Westerwaldkreis.

» zur Anmeldung



Aktuelle Artikel aus der Kultur


Ausstellung Restlicht: "Ich muss es nur sichtbar machen"

Selters. Mikele Voss fängt auf seinen Fotos das wenige Licht ein, was von Autobeleuchtung, der Milchstraße oder Straßenbahnen ...

Himmlische Weihnacht in Altenkirchen: Late-Night-Shopping mit Musik und Kulinarik

Altenkirchen. Am Donnerstag, dem 5. und Freitag, den 6. Dezember 2024, lädt der Aktionskreis Altenkirchen ab 16 Uhr zur "Himmlischen ...

Theater für Kinder: Der Räuber Hotzenplotz in der Stadthalle Hachenburg

Hachenburg. Der Räuber Hotzenplotz hat Großmutters Kaffeemühle gestohlen! Kasperl und Seppel wissen, was zu tun ist. Sie ...

Buchtipp: "Von Aschenputtel bis Zwerg Nase - Märchen in politischen Karikaturen" von Horst Haitzinger

Dierdorf/Oppenheim. Der 1939 geborene Österreicher Horst Haitzinger denkt nach eigenem Bekunden in Bildern und der übliche ...

Filmreif – Kino: Für Menschen in den besten Jahren

Hachenburg. Heinz Hellmich wartet schon lange auf seine Beförderung. Um dies zu erreichen, muss er seine "wokeste" Seite ...

Komödie "Der Vorname" im Schlosstheater: Diskussion entlarvt Vorurteile

Neuwied. Intendant René Heinersdorff verriet vor dem Start der Premiere am 15. November, dass er das Stück koproduziert habe ...

Weitere Artikel


Höhr-Grenzhausen: 12-Jähriger bei Verkehrsunfall verletzt

Höhr-Grenzhausen. Der 12-Jährige wurde von einem Pkw erfasst und durch den Aufprall verletzt. Dabei trug er eine Platz- und ...

Weil ihm die Fahrt zu teuer war: Taxi-Fahrgast randaliert in Sessenhausen

Sessenhausen. Im Krümmeler Weg warf der Mann die Scheiben eines Taxis mit Steinen ein. Kurz darauf meldete sich der betroffene ...

Buchtipp: „Seelenglück meiner Dankbarkeit“ und „Chaosliebe meiner Ordnung“ von Tina Hüsch

Dierdorf/Bad Marienberg. Alle Menschen streben nach Glück, viele setzen es mit Erfolg gleich. Tina Hüsch lebt ihr glückliches ...

Zum Tag der Organspende: Bedarf an Spenderorganen steigt durch Corona weiter

Region. Die Corona-Pandemie könnte langfristig dafür sorgen, dass die Zahl der Menschen auf der Warteliste für eine lebensrettende ...

Marzhausen: Wer hat die neu angelegte Streuobstwiese zerstört?

Marzhausen. Wie Gemeinderatsmitglied Eberhard Thiel berichtet, war die Gemeinde von der neuen Streuobstwiese sehr angetan ...

Ein Ehrentag für die Feuerwehr: VG Wirges dankt den freiwilligen Helfern

Wirges. Der Erfolg gab der Bürgermeisterin Recht, denn alle Feuerwehren waren mit stattlichen Abordnungen vor Ort präsent. ...

Werbung