Westerwälder Literaturtage boten „Zukunftsmusik“ mit Katerina Poladjan in Hachenburg
Von Helmi Tischler-Venter
Bei der Lesung in Hachenburg füllten die interessierten Zuhörer den Vogtshof, was die Veranstalter - Stadtbücherei Hachenburg und Hähnelsche Buchhandlung im Rahmen der Westerwälder Literaturtage 2022 - sehr freute. Das Thema des diesjährigen Kultursommers Rheinland-Pfalz lautet „Ostwind“, hochaktuell und brisant und kompetent vertreten durch die russischstämmige Autorin.
Hachenburg. Thomas Pagel von der örtlichen Buchhandlung war „stolz, dass ich gerade sie ausgesucht habe“, denn die Schriftstellerin Poladjan wurde zwischenzeitlich mit einer ganzen Reihe von Auszeichnungen geehrt. In profunder Kenntnis russischer Literatur entwickelte die Autorin einen ganz eigenen, packenden Erzählstil. Er veranlasst den Leser, zwischen den Zeilen zu lesen und dabei immer die Politik der Sowjetunion als den Alltag bestimmenden Dauernebel zu bedenken.
Das Buch „Zukunftsmusik“ spielt am 11. März 1985 in einer sowjetischen Kommunalka. In dieser ehemaligen großbürgerlichen Wohnung leben viele Menschen auf engem Raum, die sich eine Küche mit mehreren Herden und eine Toilette mit persönlichen, an der Wand hängenden Klobrillen teilen. Dass sich etwas ändern kann, glaubt niemand mehr. In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben Großmutter Warwara, Mutter Maria, Tochter Janka und Enkelin Kroschka und weitere fünf Mietparteien und Kater Gagarin unter dem bröckelnden Stuck einer vergangenen Zeit. Sie alle tragen ihre Wünsche und Hoffnungen im Herzen, aber an eine Änderung der Lebenssituation glaubt keiner mehr wirklich. Sie wissen nicht, dass sie mit dem Trauermarsch, der anlässlich Konstantin Tschernenkos Ableben im Radio gespielt wird, ihre Zukunftsmusik hören, weil die Kommunistischen Partei der Sowjetunion bereits am nächsten Tag den 54 Jahre jungen Michail Gorbatschow zum Generalsekretär wählen wird.
Die Menschen in der Kommunalka führen ihr gleichförmiges Alltagsleben, während schmutziger Schnee auf der Straße das Ende des Winters anzeigt. „Was die Amerikaner vom Mond übrig gelassen hatten, hing schräg am Himmel.“ Und „unten nahm der Strom alles mit sich, auch die Zeit“.
Janka sieht ihre Tochter Kroschka nur selten, denn tagsüber prüft sie Glühbirnen und komponiert in Gedanken. Ihr Traum ist die Teilnahme an einem Konzert, aber ihre Mutter bezeichnet Jankas düstere Musik als „Geschrei“, denn „Janka konnte mit ihren Liedern Gedanken ausdrücken, die Maria in schlaflosen Nächten hatte.“
„Ein Scheißleben haben wir“, mault Mutter Maria, die es satthat, allein zu sein in einem Land, in dem es sehr viele Vorschriften, aber kaum Männer gibt, um anschließend eine Diskussion um die Frage: „Trauern Bäume?“ mit dem Ingenieur von nebenan zu führen. Dieser versucht, die Devotionalien seines Lebens in 60 sorgfältig beschriftete Kästchen eines selbstgebauten Regals zu archivieren. Er erzählt von seinem besten Freund aus der Studienzeit und dessen Freundin, in die er sich unsterblich verliebt hatte: „Ich wusste nicht, dass ein Mensch so schön sein kann.“ Es stellt sich im Roman heraus, dass der Freund sich als Denunziant erwies. Wegen seiner systemdestruktiven Liebesgedichte musste der Ingenieur sein Studium abbrechen, das er ein Jahr später wieder aufnehmen durfte, indem er sich selbst als KGB-Mitarbeiter verpflichteten ließ.
Moderator Thomas Pagel forderte das Auditorium zu Fragen auf. In der Diskussion wies Katerina Poladjan, die 1971 in Moskau geboren wurde und seit 1979 in Deutschland lebt, darauf hin, dass sich in Russland keine Zivilgesellschaft bilden konnte aus der permanenten Angst um den Job. Diese Zeit, die die Menschen abstumpfen, aber nicht resignieren ließ, wirkt bis heute nach. Die Kommunalka steht als Metapher für die Sowjetunion, in der sehr viele Menschen untereinander lebten, die sich nicht nur eine Toilette, sondern auch eine Ideologie teilen mussten.
Die Hauptfigur Janka gehöre zur „vergessenen Generation“, für die der Aufbruch nur eine sehr kurze Zeitspanne war. Der Zusammenbruch des Systems in den 1990er Jahren führte zu Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Anarchie. Das, woran man die ganze Zeit glauben musste, war nichts mehr wert. Es entstand ein Identitätsvakuum, dessen Aufarbeitung ein Problem ist. „Im Dezember letzten Jahres wurde Memorial (internationale Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in Moskau) verboten, das war schlimm.“
Das Buch „Zukunftsmusik“ erschien am 23. Februar 2022, am nächsten Tag begann Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Dadurch erhält der Roman noch mehr Relevanz und für die Autorin noch mehr persönliche Tragik, denn ihre Mutter stammt aus der Ukraine. Im Buch und im aktuellen Leben steht nach allem die Frage: Was tun? (htv)
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