Kritik am Ehrenamt ist dringend notwendig
Der Westerwald wäre ohne das gelebte Ehrenamt ärmer! Etwa 55.000 Menschen im Westerwaldkreis bringen freiwilliges Engagement im Verein, der Gemeinde, in der Schule oder in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft ein und hören überall nur Lob für die gute Tat. Doch kaum jemand hat es bisher gewagt, dieses vielfältige ehrenamtliche Tun zu hinterfragen. In Westerburg wurde jetzt ein Anfang zu einer auch im Westerwald notwendigen Diskussion gemacht.
Westerwaldkreis. Das Forum Soziale Gerechtigkeit hatte die Publizistin und Autorin Claudia Pinl in die Buchhandlung LOGO eingeladen. Der Gast aus Köln stellte ihr aktuelles Buch „Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit“ vor. Obwohl ihre auf 144 Seiten beschriebenen Thesen wenig geeignet waren Harmonie zu verbreiten, wurde es dennoch eine harmonische Veranstaltung. Grund dafür war, dass alle Plätze in der Buchhandlung mit Leuten besetzt waren, die ohne Ausnahme ehrenamtlich tätig sind und für den kritischen Blick darauf dankbar waren.
Für die Gastgeber begrüßten Petra und Eva Zimmermann die vielen Gäste und dankten dem Forum Soziale Gerechtigkeit für die Initiative zu diesem Abend. Forumssprecher Uli Schmidt (Horbach), der die Veranstaltung auch moderierte, leitete mit einigen provokanten Anmerkungen in die Thematik ein. „In der Politik setzt sich immer mehr die Meinung durch: warum sollen wir noch für notwendige Arbeiten bezahlen, wenn wir dafür auch Ehrenamtliche finden, die es umsonst machen und die wir am Ehrenamtstag mit einer Belobigung abspeisen können!“, so Schmidt. Dieser Automatismus müsse kritisch hinterfragt und das Bürgerschaftliche Engagement nicht zum Notnagel einer weitgehend verfehlten Finanzpolitik verkommen, die die Reichen schone und die Normalbürger zunehmend mit Steuern und zusätzlichen Ehrenämtern belaste.
„Man kommt sich schon sonderbar vor“, so Claudia Pinl, „wenn man daran erinnert, dass Bildung, Kultur, kommunale Infrastruktur und soziale Sicherung öffentliche Aufgaben sind, die mit Steuergeldern, finanziert werden müssen. Unter anderem deshalb, um den Abbau von Arbeitsplätzen in diesen und anderen Bereichen zu verhindern“. Die Autorin wies darauf hin, dass 2012 bundesweit 4,6 Mrd. Arbeitsstunden ehrenamtlich geleistet wurden, die rechnerisch 3,2 Mio. Vollzeitbeschäftigten entsprechen.
Pinl stellte die Frage, warum eine so reiche Gesellschaft in immer mehr Bereichen auf immer mehr Ehrenamtliche angewiesen sei, damit es noch rund läuft. „Der Staat wird kaputt gespart, weil man sich nicht traut von dem grenzenlosen und wachsenden Reichtum genug abzuschöpfen“, so der Gast aus Köln. Bei aller berechtigten Kritik dürfe dies nicht dazu führen, dass die Kultur des Helfens mies gemacht werde. Diese halte unsere Gesellschaft zusammen, egal ob bei der sinnvollen Nachbarschaftshilfe oder beim Naturschutz angesichts der drohenden Klimakatastrophe. Derzeit werde immer mehr mit „Aufwandsentschädigungen“ gelockt, um noch genug Leute zu mehr Bürgersinn zu motivieren.
Im Verlauf der zweistündigen Diskussion wurde von ehrenamtlichen Mitarbeitern der „Westwaldkreistafel“ immer wieder das Thema „Tafeln“ angesprochen. Diese sammeln überflüssige Lebensmittel ein und geben sie an Bedürftige weiter. „Der Skandal ist hierbei, die geplante industrielle Überproduktion von Lebensmitteln, an der wir alle als Konsumenten mitschuldig sind“, so Claudia Pinl dazu. „Mir geht es mehr darum, gute Lebensmittel zu retten, als Armut zu beseitigen“, rechtfertigte eine der „Tafelaner“ sein Engagement. Eine andere Helferin meinte: „In einigen Jahren sterben wir eh aus, in unserer Tafel sind nur Rentner tätig“. Einig waren sich alle Anwesenden darin, dass es für unsere reiche Gesellschaft ein Armutszeugnis ist, wenn sie einen Teil der Menschen nur mit hohem ehrenamtlichem Engagement ernähren kann.
„Ich ärgere mich über die Selbstverständlichkeit, mit der verschiedene Arten von Gratisarbeit und Ehrenamt von allen Seiten eingefordert werden, versehen mit hehren Etiketten wie bürgerschaftliches Engagement“, so Pinl im Schlusswort. Beispiele dafür seien an dem Abend in Westerburg genug vom Krankenhaus und Altenheim bis zur Schule und der Armenspeisung genannt worden. „Ich wollte mit meinem Buch und der Veranstaltung heute Abend einen Beitrag dazu leisten, diese Entwicklung kritisch im Blick zu haben“, meinte Pinl abschließend.