Tag der Inklusion legt Finger in Wunden
Mehr als 200 Menschen haben in Bad Marienberg den "Tag der Inklusion"
besucht, zu dem die Evangelische Erwachsenenbildung eingeladen hatte. Die Veranstaltung nennt Chancen und Probleme des Miteinanders von Behinderten und Nichtbehinderten beim Namen.
Westerwaldkreis. Nein – das Thema Inklusion ist keines, das mit oder an einem einzigen Tag abgehandelt werden kann. Dazu ist das vieldiskutierte Miteinander von nichtbehinderten und behinderten Menschen in Schulen und Kindertagesstätten zu vielschichtig, zu komplex. Dass ein „Tag der Inklusion“ trotzdem wichtig ist, haben mehr als 200 Besucherinnen und Besucher nun im Evangelischen Gymnasium Bad Marienberg erlebt. Denn wenn es ein Fazit dieses Tages gab, dann war es dieses: Das Bewusstsein für die Inklusion ist da, aber es gibt noch eine ganze Menge zu tun.
Ein Gedanke, den der Chor „Klangseelen“ aus Westerburg gleich zu Beginn aufgreift. „Was morgen ist, auch wenn es Sorge ist, ich sage ,ja’“, singen die Männer und Frauen und meinen damit auch den langen Weg hin zu einer besseren Miteinbeziehung behinderter Menschen. „Denn ohne dieses ,Ja’ wollen wir gar nicht erst über Inklusion sprechen“, sagt Chorleiter Michael Knopp.
Es braucht also einen langen Atem: in den Schulen, den Kitas, den Einrichtungen. Die vielen anwesenden Erzieherinnen und Erzieher und Lehrkräfte wissen das. Auch die Hausherren, die Pädagogen des Evangelischen Gymnasiums Bad Marienberg, die schon seit Jahren Erfahrungen mit dem Thema sammeln. „Wir haben schulinterne Arbeitsgruppen, einen Inklusionsbeauftragten, einen Kooperationsvertrag mit der Landesgehörlosenschule in Neuwied“, zählt der Kommissarische Schulleiter Dirk Weigand auf. „Und doch ist der Weg der Inklusion nicht immer einfach, sondern fordert Kompetenzen, die weit übers Fachliche hinausgehen.“
Kompetenzen, die die Expertin zum Thema, Prof. Dr. Marion Felder, während ihres Fachvortrags beim Namen nennt: „Lehrkräfte müssen sich weiterbilden können und unterstützt werden. Therapeuten sollten direkt in der Schule statt außerhalb zur Verfügung stehen. Alle Beteiligten müssen eng kooperieren; die Gebäude müssen barrierefrei und eine Einzelförderung muss möglich sein“, zählt sie auf. Ihrer Ansicht nach bedeutet Inklusion nicht, jedes Kind auf Biegen und Brechen gleich zu behandeln. „Es reicht nicht, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu beschulen. Ein erzwungenes Integrationssystem kann zu einer erneuten unguten Trennung führen. Stattdessen sollten Lehrkräfte die unterschiedliche Lernstile der Jungen und Mädchen respektieren.“
Nicht nur die Professorin weiß, dass gerade in diesem Punkt Anspruch und Realität auseinander klaffen. Denn je individueller die Betreuung ist, desto teurer wird sie. „Letztlich entscheidet die Gesellschaft, wie wichtig ihr Inklusion ist – und wieviel sie bereit ist, dafür zu zahlen“, sagt sie mit Blick auf die politisch Verantwortlichen. Schulleiter Weigand pflichtet ihr bei: „Für unser Kollegium ist der Inklusionsgedanke in der pädagogischen Arbeit selbstverständlich. Aber wir brauchen dabei die Hilfe externer Fachleute und wissen, wie entscheidend die finanzielle Unterstützung ist.“
Die Finanzierung ist auch bei der anschließenden Podiumsdiskussion das dominierende Thema – zu dem besonders der Vertreter der Kreises, Udo Sturm, häufig Stellung nehmen muss. Er erläutert nicht nur gesetzliche Gegebenheiten und Zuständigkeiten, sondern bittet auch um Verständnis, wenn nicht alle Entscheidungen der Verwaltung auf Gegenliebe stoßen: „Die Kreisverwaltung prüft, gewährt und versucht bei Beschlüssen stets einen vernünftigen Weg hinzubekommen – auch wenn damit nicht immer alle glücklich sind.“
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Unglücklich ist Michaela Jensen, Mutter eines autistischen Sohnes, nicht nur darüber, dass Eltern betroffener Kinder oft für jede einzelne Leistung kämpfen müssen, sondern dass der Umfang der Betreuung oft hinten und vorne nicht reicht: „In der Kindertagesstätte gibt es fünf Integrationsstunden pro Woche – also nur eine einzige am Tag. Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein, zumal ein Großteil der Zeit nur für das Anziehen und die Körperpflege wegfällt.“ Sabine Herrenbrück, Verteterin des „Zentrums Bildung“ der Landeskirche, weiß, dass der knappe Stundenumfang in der Tat eine pädagogische Herausforderung ist. „Die Grenzen der Inklusion liegen nicht in den Kindern. Sie liegen in den Strukturen. Es ist eine unsägliche Situation, wenn die Politik Lippenbekenntnisse macht und den Schwarzen Peter den Trägern zuschiebt, sobald es um deren Umsetzung geht. Die Politik kann nicht nur die Lippen spitzen: Sie muss auch mal flöten.“
Volker Vieregg, Direktor der Katharina-Kasper-Schule Wirges, pflichtet ihr bei: „Ressourcen und Personal sind das A und O, wenn es um eine gelingende Integration geht. Die Schulen brauchen nun einmal eine andere Personalausstattung, um den Schülern gerecht zu werden. Schließlich kann ich ein Kind mit einer emotionalen Beeinträchtigung nicht mit einem mehrfachbehinderten vergleichen. Inklusion ist ein langer Weg, der zwar schon begonnen hat, aber der sich langsam entwickelt.“
Am Ende des Gesprächs fordert der Moderator der Runde, Dekan Wolfgang Weik, eine neue Sichtweise: „Es geht nicht darum, dass eine Minderheit in die Mehrheit eingebunden werden muss. Es geht darum zu erkennen, dass unsere Gesellschaft aus ganz unterschiedlichen Gliedern besteht, die zu einem Leib zusammenwachsen. Schließlich hat auch Jesus Christus inklusiv gelebt und ist auf diejenigen zugegangen, die ausgestoßen waren.“
Trotz aller Herausforderungen und Probleme, die es bei der Umsetzung der Inklusion gibt: Etliche Beispiele aus der Region zeigen, dass das Miteinander vielerorts schon gut funktioniert. Der „Markt der Möglichkeiten“, eine Messe am Rande des „Tages der Inklusion“, bietet einen informativen Überblick über Projekte der Arbeiterwohlfahrt, der Diakonie, der Evangelischen Frauen, der Stiftung Scheuern und weiterer Einrichtungen – etwa die Initiative der Berufsbildenden Schule Montabaur und der Katharina-Kasper-Schule Wirges: An zwei Stunden pro Woche treffen sich Jugendliche beider Schulen, um miteinander zu arbeiten, Zeit zu verbringen und um voneinander zu lernen.
Ermutigende Aktionen, die zeigen, dass das Miteinander eine Menge Spaß machen kann.
Dass Berührungsängste und übertriebener Ernst beim Thema Inklusion fehl am Platze sind, glaubt auch Kabarettist Rainer Schmidt. Der Paralympics-Sieger und Pfarrer sorgt mit seinem Programm „Däumchen drehen“ für einen angemessenen Schlusspunkt eines wichtigen Tages. Eines Tages, der vor allen Dingen eines zeigt: Das Thema Inklusion ist zwar in den Köpfen, aber noch lange nicht im Alltag angekommen. (bon)
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