Hirnforscher Professor Wolf Singer im Interview
Professor Wolf Singer, Hirnforscher und Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/Main Prof. Dr. Wolf Singer, 66, leitet das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Er gilt als einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Gastautorin Jane Uhlig hat ihn interviewt.
Region. Jane Uhlig, Kommunikationsexpertin und Publizistin, studierte Sozialpädagogik und Kommunikationspsychologie. Bevor sie sich der Massenkommunikation neben der Leitung der Frankfurter Texterschule in Frankfurt am Main widmete, war sie in der klientenzentrierten Einzelberatung / systemisches Coaching tätig. „Denn kraftvolle Massenkommunikation beginnt bei der Einzelkommunikation - dem Verständnis der Psyche des einzelnen Menschen“, so ihr Motto.
Uhlig: In der Hirnforschung bahnt sich die größte wissenschaftliche Herausforderung für unsere Gesellschaft des 20. Jahrhunderts an. Wie sehen Sie die Veränderungen der Zukunft in Sachen Hirnforschung?
Singer: Für die Veränderungen in der Gesellschaft ist natürlich nicht nur die Hirnforschung verantwortlich, sondern beispielsweise auch die Entwicklung der digitalen Medien. Soll ich eher über die zukünftigen oder die augenblicklichen Entwicklungen in der Hirnforschung sprechen. Was interessiert Sie am meisten?
Uhlig: Also einmal interessieren uns die Veränderungsprozesse in der Gesellschaft und dann, wie wir Menschen diese herbeirufen.
Singer: Wenn Sie fragen, welche Veränderung in der Gesellschaft im Augenblick die größte Herausforderung darstellt, dann ist es wohl die zunehmende Komplexität der Systeme, die wir uns geschaffen haben. Das gilt für Wirtschaftssysteme ebenso wie für soziale und ökologische Systeme. Wir Menschen haben die Welt grundlegend verändert. Deshalb nennt man unsere Zeit auch das Anthropozän.
Menschen haben Kultur in die Welt gebracht, dadurch dass sie miteinander in Wechselwirkung getreten sind. Sie haben der biologischen die kulturelle Evolution hinzugefügt und dadurch neue Wirklichkeiten erzeugt die sogenannten sozialen Realitäten. Und diese sind es, die uns jetzt zunehmend Schwierigkeiten bereiten. Durch den Aufbau von Zivilisationen schufen wir hoch komplexe Interaktionsgeflechte, die außerordentlich schwer zu beherrschen sind. Wenn wir uns sorgfältig prüfen, stellen wir fest, dass wir nicht mehr in der Lage sind, diese Systeme zielführend zu entwickeln. Wir versuchen zwar, in deren komplexe Dynamik einzugreifen, wenn sie instabil zu werden droht, aber solche Steuerungsversuche ähneln mehr dem Management akuter Krisen als der Optimierung von Interaktionsarchitekturen, die sich langfristig selbst stabilisieren.
Uhlig: Wie spiegelt sich das Interaktionssystem in Unternehmen wider?
Singer: Wenn man die Verflechtung der Unternehmen weltweit untersucht, dann stößt man auf hoch komplexe Netzwerke, die ähnliche Merkmale aufweisen wie das Internet oder wie neuronale oder soziale Netzwerke. Solche Systeme haben die Eigenschaft, eine sehr komplexe, nicht-lineare Dynamik zu entwickeln, die über längere Zeitabschnitte hinweg weder kontrollierbar noch prognostizierbar ist. Wenn man in solche Systeme dirigistisch eingreift, reagieren die darauf kurzfristig vielleicht wie gewünscht. Aber die langfristigen Folgen sind im Prinzip nicht voraussehbar. Und deshalb ist es so schwierig, mit den von uns geschaffenen Systemen umzugehen. Man muss versuchen, die Architektur der Systeme so auszulegen, dass sie gegenüber Störungen robust sind, immer wieder ihr Gleichgewicht von alleine finden. Das ist ein evolutionäres Prinzip, die Natur hat uns das vorgemacht.
Uhlig: Das heißt, die Interaktionssysteme, in denen wir uns befinden, sind letztendlich von der Natur und nicht von Menschen geschaffen?
Singer: Naja, die Natur, die Evolution hat zwar den Menschen hervorgebracht, die Knoten der zukünftigen sozialen Netzwerke. Aber dass einmal sechs oder acht Milliarden solcher Knoten existieren und sich Technologien schaffen würden wie das Internet, die eine enge Koppelung erlauben, - dafür hat uns die biologische Evolution nicht vorbereiten können. Wir haben einfach das jeweils Vorgefundene entsprechend unserer Bedürfnisse optimiert und uns Ressourcen erschlossen, um unsere Existenz und Reproduktion zu sichern. Solange diese neu entstandenen sozialen Systeme überschaubar blieben, solange die miteinander verbundenen Menschen sich persönlich begegnen konnten, war es möglich auf Tugenden wie Vertrauen, Ehrlichkeit und Altruismus zu bauen, um die Systeme stabil zu halten.. Wenn solche Systeme jedoch sehr groß werden, wie die jetzt weltweit gekoppelten Systeme, dann greifen solche Regulationsmechanismen nicht mehr.
Uhlig: Sie sprachen von Nächstenliebe und von Empathie. Wovon sprechen wir denn bei der Finanzkrise? Es wird überall von einer Vertrauenskrise gesprochen. Hängt das mit den komplexen Strukturen zusammen?
Singer: Es hängt damit zusammen, dass die Rückkopplung zwischen den Agenten weitestgehend fehlt. Der Akteur bekommt die Folgen seines Tuns nur sehr indirekt, wenn überhaupt zu spüren, es sei denn er verletzt gesellschaftliche Normen in einer Weise, die strafrechtliche Konsequenzen hat. Wenn jemand in einer kleinen Stammesgesellschaft jemand anderen übervorteilt, dann ist das sehr schnell aufzudecken und das unfaire Verhalten wird mit Sanktionen bestraft. In einem großen Konstrukt wie dem verflochtenen Finanzsystem schlägt solches Fehlverhalten, wenn es denn als solches betrachtet würde, nur mit großer Verzögerung auf den Täter zurück. Und auch dann wird nicht das Individuum sondern meist eine anonyme Institution zur Rechenschaft gezogen.
Uhlig: Wie beispielsweise Banken ...
Singer: Also ich stelle mir vor, dass Investmentbanker, die überhöhte Risiken eingehen oder wissentlich anderen schaden, selten persönlich belangt werden. Meist sind das die dahinter stehenden Institution, die dafür geradestehen müssen – so wie es bei der Deutschen Bank der Fall war. Kriminelle Machenschaften mal ausgenommen. Natürlich haben einzelne Menschen das zu verantworten, aber diese werden nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern oft sogar mit Boni belohnt. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum die Versuchung so groß ist, die Kriterien der Fairness dem persönlichen Profitstreben unterzuordnen. Die Geschädigten bleiben ja ihrerseits anonym, weshalb die oben genannten Tugenden als Regulativ nicht greifen können. Manipuliert werden Geldströme. Dass dieses Geld ursprünglich als symbolischer Gegenwert für einen von Menschenhand geschaffenen konkreten Wert steht, der dem Wertschöpfer gehört und deshalb geschützt werden muss, entzieht sich dann meist unserer Wahrnehmung. Hinzu kommt die unüberschaubare Dynamik. Es werden Derivate von Derivaten aufgelegt, es entstehen immer komplexere Abhängigkeiten, die analytisch nicht mehr durchdringbar sind... und am Ende ist das entstandene Geflecht nicht mehr durch ein real erwirtschaftetes Sozialprodukt oder Vermögen gedeckt. Und weil man sich auf diese Weise offenbar kurzfristig sehr gut bereichern kann, wird das flächendeckend versucht und führt natürlich zu Systemzusammenbrüchen.
Das vollständige Interview ist nachzulesen im Buch von Kai Anderson und Jane Uhlig „Das agile Unternehmen -Wie Organisationen sich neu erfinden“ 281 Seiten, gebunden, 49 Euro ISBN 978-3-593-50455-1 erscheinen im Campus Verlag.
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