Projekt „Mein zweites Ich“ zeigt Menschen, die neue Schritte wagen
Zwei Fotografien. Eine in Schwarzweiß, eine in Farbe. Auf dem linken Bild: Ein Mann, der im Arbeits-T-Shirt ein Stück Holz zurechtsägt. Das rechte zeigt einen Dressman im schwarzen Anzug, die Sonnenbrille lässig im Anschlag, den Blick in die Ferne gerichtet. Ein anderes Foto: Einmal eine Frau in Kittelschürze und Haarnetz. Daneben: Eine Dame in lässiger Pose mit körperbetonter Jeans und offenem, wallendem Haar.
Westerwaldkreis. Auf beiden ist derselbe Mensch zu sehen - auch wenn das selbst nach dem zweiten Blick unglaublich scheint. Menschen mit psychischen Erkrankungen; Klienten der Tagesstätte der Diakonie in Westerburg. Und Hauptdarsteller eines besonderen Projekts, dessen Ergebnis nun in Westerburg und Montabaur zu sehen ist.
In der Tagesstätte lernen sie, ihr Leben neu zu gestalten, Struktur in ihren Alltag zu bringen. Jeder hat dort seine Lieblingsaufgabe, die er oder sie kennt und kann – ob es nun das Zubereiten des gemeinsamen Essens ist, das Putzen der Fenster, die Arbeiten in der Werkstatt oder andere Aufgaben. „Viele unserer Besucher haben Dinge erlebt, nach denen das Leben völlig aus den Fugen geraten ist“, sagt Astrid Müller-Ax, die die Tagesstätte leitet. „Es ist wichtig, dass jede und jeder eine verbindliche Aufgabe bekommt, die ihm oder ihr hilft, dem Leben wieder eine Form zu geben.“
Allerdings lernen die Männer und Frauen in Westerburg nicht nur neue Routine. Das sechsköpfige Team berät und unterstützt die Betroffenen nach Kräften; hilft, eigene Belastungsgrenzen kennen zu lernen; trainiert lebenspraktische- und soziale Fähigkeiten und gibt Hilfe zur Selbsthilfe. „Wir ermutigen unsere Besucher auch, dass sie ihre Talente entdecken. Denn die bleiben wegen der Erkrankung oft im Verborgenen“, sagt Astrid Müller-Ax.
Deshalb sind die Bildpaare des Projekts „Mein zweites Ich“ keine „Vorher-Nachher“-Fotos. Es sind „Sowohl als Auch“-Abbildungen. Das auf Schwarzweißfilm fotografierte Bild zeigt den Menschen in seinem alltäglichen Arbeitsumfeld in der Tagesstätte; bei denjenigen Dingen, die vertraut sind und die Sicherheit geben.
Auf der anderen Seite: die Farbaufnahmen. Die Männer und Frauen sagen, als welchen Typ sie sich selbst sehen und welche (verborgene) Seite sie gerne zeigen wollen. Das Team der Tagesstätte unterstützt sie bei diesem Wunsch – mit Hilfe einer Visagistin, eines Fotografen, vielen Kostümen im beeindruckenden Ambiente des Stöffelparks. „,Mein zweites Ich’ ist viel mehr als ein Fotoprojekt“, sagt Astrid Müller-Ax. „Wir haben uns wochenlang intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt und mit den Besuchern reflektiert, wie wir im Alltag auftreten: eher ruhig, eher laut? Im nächsten Schritt wollten wir von ihnen wissen, in welche Richtung sie sich gerne verändern würden, wenn sie sich verändern könnten. Im dritten Teil des Projekts formulierte jeder seinen Wunsch vor der Gruppe – was manchmal eine gehörige Portion Mut erforderte“, sagt Astrid Müller-Ax. Aber gerade dieser Schritt war wichtig, denn die Männer und Frauen erlebten, wie sie von den anderen der Gruppe in ihren Wünschen bestärkt, ermutigt und ernstgenommen wurden.
Schließlich ging’s an die praktische Umsetzung: Die Besucher der Tagesstätte haben sich mit ihren Outfits beschäftigt. „Gemeinsam überlegten wir, was zusammenpasst und was nicht, welche Accessoires noch fehlen und woher wir die Kleidungsstücke bekommen. Und schließlich waren wir gemeinsam shoppen“, erklärt Astrid Müller-Ax lächelnd und erinnert sich gerne an diesen Tag zurück, an dem sich die Besucher untereinander beraten haben, ob nun dieses oder jenes Kleid besser zum Typ passt.
An den beiden Tagen des Shootings im Westerwälder Stöffel-Park war die Aufregung zunächst groß. Denn für viele hatte die Situation vor der Kamera in einem frischen Outfit etwas Fremdes. „Dabei haben es alle so toll gemacht“, sagt Astrid Müller-Ax rückblickend. „Sie haben gesehen, dass sie selbst ungewohnte Situationen meistern. Und dass sie sich Dinge zutrauen können.“
Das Ergebnis dieses Wagnisses sind beeindruckende und bewegende Dokumente der Verwandlung. Sie zeigen, wie Menschen ihre Sicherheitszone verlassen und verborgene Seiten an sich entdecken. Vielleicht nur, um es sich mal getraut zu haben. Vielleicht aber auch als ein neues Ja zum eigenen Ich.
Umgesetzt wurde das Projekt von der Visagistin Irina Scheiwe und vom Öffentlichkeitsreferenten des Evangelischen Dekanat Selters, Peter Bongard. Der Journalist fotografierte die Menschen fast ausschließlich auf analogem Filmmaterial. Eine bewusste Entscheidung für einen authentischen, ungekünstelten Look und gegen nachträgliche digitale Bildmanipulation, die in der Model-Branche inzwischen üblich ist. „Alles, was man auf den Bildern sieht, ist der beeindruckenden Arbeit von Irina Scheiwe und vor allen Dingen der tollen Ausstrahlung der Models zu verdanken“, sagt Peter Bongard.
Damit das Projekt „Mein zweites Ich“ nun noch möglichst lange nachwirkt, werden die Fotos im Foyer des Kreisverwaltung Montabaur (Peter-Altmeyer-Platz 1) ausgestellt und als Bildstrecke in der kommenden Ausgabe des Magazins „Salz“ gezeigt, der Zeitschrift der Evangelischen Dekanate Selters und Bad Marienberg, die ab Mitte September in allen evangelischen Kirchengemeinden des Westerwalds erhältlich ist. Die Vernissage der Ausstellung, zu der jeder herzlich eingeladen ist, findet unterdessen in Westerburg statt: am 17. September um 14.30 Uhr im Erlebnisbahnhof Westerburg (Bahnhofstraße 46c).
Abschließend hofft Astrid Müller-Ax, dass das Projekt „Mein zweites Ich“ eines beweist: „Die Fotos illustrieren, dass die Männer und Frauen der Tagesstätte ihr Leben nicht nur bewältigen, sondern es in den verrücktesten Farben gestalten.“ (bon)
Die Fotoausstellung „Mein zweites Ich“ kann vom Donnerstag, 21. September, bis zum Freitag, 20. Oktober, in der Kreisverwaltung Montabaur während der Öffnungszeiten besichtigt werden. Die Vernissage findet am Sonntag, 17. September, um 14.30 Uhr im Erlebnisbahnhof Westerburg statt.
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