Die Andreasgemeinde ist seit 20 Jahren einzigartig
Der Apostel Andreas hält die evangelische Kirche in Herschbach zusammen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Der charakteristische Bau in der Peter-Klöckner-Straße wird von kräftigen, x-förmig zusammenlaufenden Dachbalken gestützt – dem Andreaskreuz. Doch der Apostel stützt nicht nur das Gebäude.
Herschbach. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten folgt die evangelische Gemeinde dem sogenannten Andreasprinzip: dem Prinzip des Kommens und Erlebens; der persönlichen, individuellen Gotteserfahrung, des Eingeladen-fühlens und des Glaubens, der nicht nur an Sonntagen, sondern gerade im Alltag eine Rolle spielt.
Bevor die Herschbacher Andreasgemeinde am 3. Dezember ihren 20. Geburtstag feiert, kreuzen sich noch einmal die Wege ihrer ehemaligen und jetzigen Leiter. Im nüchtern gehaltenen Innenraum der kleinen Kirche sprechen sie über deren Geschichte und erinnern sich an die Euphorie, mit der das Abenteuer in den 1990er-Jahren beginnt. Denn als der damalige Rückerother Pfarrer Werner Schleifenbaum 1991 nach England reist und dort das Konzept der Gemeindepflanzung kennenlernt, reift in vielen Protestanten der Region eine Sehnsucht: eine eigene, lebendige Gemeinde in Herschbach zu pflanzen. Eine Kirche, die zu den Menschen kommt.
Der Bau, der später die Andreaskirche wird, ist damals noch ein evangelisches Gemeindehaus. In ihm treffen sich evangelische Christen zweimal im Monat zu Gottesdiensten. Doch einigen reicht das nicht: „Der Vorstand der Rückerother Kirchengemeinde beschloss deshalb, ein Team nach Herschbach zu entsenden, um dort eine Filialgemeinde zu pflanzen“, erinnert sich die erste Gemeindeleiterin Jutta Digel an die Pionierarbeit der Protestanten. Das Engagement des Teams geht weit über das übliche Maß hinaus: Die Männer und Frauen verlegen ihren Lebensmittelpunkt nach Herschbach, knüpfen intensive Kontakte und leisten viel Basisarbeit. Es folgen mehrere Jahre, in denen das zarte Pflänzchen Gemeinde gehegt und gepflegt wird, bevor es dann am 30. November 1997 zum ersten Mal aufblüht: die Andreasgemeinde entsteht. „Nach Jahren mühsamer Arbeit waren wir angekommen“, erzählt Gründungsmitglied Hans Paal. „Das war ausgesprochen ergreifend. Fast wie die Geburt eines Kindes.“
Das Ergreifende bewahren sich die Herschbacher. Ihre Gottesdienste leben davon, dass die Besucher nicht nur passiv teilnehmen, sondern eingeladen sind, sie auch aktiv mitzugestalten. „Das ist ein wichtiges Element des Andreasprinzips“, sagt das Vorstandsmitglied Hermann Meyer. „Die Menschen sollen nicht mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl sitzen, sondern bekommen Raum, im wahrsten Wortsinn auf Gott zuzugehen. Am Anfang bieten wir zum Beispiel die Möglichkeit, dass jeder und jede ans Kreuz am Altar kommen und dort sowohl Dank als auch belastende Dinge im stillen Gebet ablegen kann.“
Doch das Gemeindeleben findet nicht nur sonntags statt. Die Herschbacher Protestanten mischen sich von Anfang an auch ins Ortsgeschehen ein: Gemeinsam mit der katholischen Gemeinde initiieren sie Ende der 1990er-Jahre am Herschbacher Rathaus einen Gedenkstein für Opfer der Reichspogromnacht. Darüber hinaus sind sie entscheidend daran beteiligt, dass es die Herschbacher Ausgabestelle der „Tafel“ gibt und engagieren sich 2015 mit ihrem gut besuchten „Café Welcome“ auch in der Flüchtlingsarbeit.
Die geistlichen Angebote wachsen im Laufe der Jahre ebenfalls: In der Gemeinde etablieren sich ungewöhnliche Projekte wie beispielsweise das 24-Stunden-Gebet, in dem Männer und Frauen einen Tag lang in „Schichten“ beten.
Auch das ökumenische Miteinander funktioniert in Herschbach, wie Jutta Digel betont – nicht nur in gemeinsamen Projekten wie dem Candlelight-Dinner oder der Veranstaltung „Horizonte“: „Ich erinnere mich an ein besonders ergreifendes Abendmahl. Das haben wir gemeinsam mit einem jüdischen Christen, einem Christen einer Freikirche und einem Katholiken gefeiert.“
2008 erlebt die Andreasgemeinde einen Einschnitt: Jutta Digel verabschiedet sich nach einem Jahrzehnt fordernder Aufbauarbeit als Gemeindeleiterin. „Ich glaube, das ist verständlich, denn wenn man endlich zu Bewährtem gefunden hat, neigt man dazu, es dabei zu belassen“, sagt sie. „Es wurde einfach zu kuschelig“, erinnert sich Jutta Digel. „Eine Gemeinde muss immer voller Energie nach außen gehen. Das stagnierte damals, und deshalb war es Zeit für etwas Neues.“
Das Neue kam in Form von einem Ehepaar aus Süddeutschland: Katrin und Michael Kleck. Zwei junge Theologen, frisch aus der Bibelschule. Er ein Schwabe, sie aus Baden. Die Landeskirche erkennt den Bibelschulabschluss der beiden zwar nicht an, doch dank ihrer Prädikantenausbildung dürfen die Klecks in der Evangelischen Kirche Gottesdienste leiten, Taufen vornehmen und das Abendmahl einsetzen. In Herschbach tun sie das seit knapp zehn Jahren und haben der Gemeinde seitdem viele frische Impulse gegeben – gerade, was die Familienarbeit betrifft. Denn die liegt den Eltern zweier kleiner Kinder besonders am Herzen. „Die Beziehung zu jungen Familien ist uns in den vergangenen Jahren sehr wichtig geworden“, sagt Katrin Kleck und freut sich, dass die Andreasgemeinde mit dem Elterncafé, Apfelnachmittagen oder der Waldweihnacht Veranstaltungen ins Leben gerufen hat, bei denen sich Familien einfach wohl fühlen. „Gerade mit der Waldweihnacht, die wir auf einer Lichtung am Ortsrand von Herschbach feiern, erreichen wir Menschen, die selbst an Heiligabend wohl nicht in eine Kirche kommen würden“, glaubt Michael Kleck.
Das Andreasprinzip ist nach 20 Jahren lebendiger denn je. Das beweisen nicht nur die konstant hohen Besuchszahlen bei den Gottesdiensten. Das spüren auch die Besucher, die sich in Herschbach einfach willkommen fühlen. Nicht nur wegen des Gesprächskaffees im Anschluss an den sonntäglichen Gottesdienst. Auch wegen Mitarbeitern wie Hans und Melitta Paal oder Michaela Schmidt, die jeden einzelnen Gottesdienstbesucher mit netten Worten und herzlichem Händedruck begrüßen. „Bei uns soll sich eben niemand alleingelassen fühlen“, sagt Michaela Schmidt.
Denn letztlich geht es unter dem Andreaskreuz um Beziehungen, meint auch Hermann Meyer: „Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Menschen zu Gott. Das ist die Konstante, die uns seit 20 Jahren trägt und die guttut.“ (bon)
Die Andreasgemeinde wird ausschließlich über Spenden und Zuwendungen finanziert und ist dankbar für Unterstützung. Die Bankverbindung: MB2W e.V.; IBAN DE83 5105 0015 0762 0411 54; BIC NASSDE55XXX
Im Detail:
Die Andreasgemeinde – ein einzigartiges Konzept in der Landeskirche
Das Ehepaar Michael und Katrin Kleck leitet die Evangelische Andreasgemeinde in Herschbach. Doch strenggenommen gibt es in der Evangelischen Kirche keine Gemeindeleiter. Es gibt Pfarrerinnen und Pfarrer. Und es gibt den Kirchenvorstand, der eine Gemeinde laut Kirchenrecht leitet. Nun steht der Andreasgemeinde allerdings keine eigene Pfarrstelle zu: Sie ist eine Tochter der Kirchengemeinde Rückeroth – obwohl sie inhaltlich unabhängig ist. Damit die Andreasgemeinde am Kirchort Herschbach trotzdem umfassend seelsorgerisch betreut wird und finanziell lebensfähig bleibt, gibt es den Verein „Missionarische Basis Westerwald“, der die Stelle der Klecks über Spenden von Gemeindegliedern, Unterstützern und mit der Hilfe des Dekanats Selters finanziert. Die Herschbacher „Gemeindeleiter“ arbeiten also auf Basis freiwilliger Spenden und Zuwendungen – und das ist in der gesamten Landeskirche weitgehend einzigartig.
Festgottesdienst am 3. Dezember
Die Andreasgemeinde feiert ihren 20. Geburtstag mit einem Festgottesdienst am 3. Dezember um 14 Uhr. Als besonderer Gast wird die Berliner Pfarrerin Birgit Dierks predigen: Sie ist tätig bei der „Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste“ in der EKD und spricht in Herschbach über frische Ausdrucksformen von Kirche. Nach dem Gottesdienst lädt die Andreasgemeinde zum gemeinsamen Empfang bei Kaffee und Kuchen und dabei auch gleich zur Eröffnung des jährlich stattfindenden „Lebendigen Adventskalenders“ ein.
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