Ein Macher hat Geburtstag: 200 Jahre Friedrich Wilhelm Raiffeisen
Der Jubeltag fällt auf einen Karfreitag. Vielleicht ist das nicht das Schlechteste - bietet dieser Tag doch möglicherweise mehr als andere Zeit und Ruhe, sich etwas ausführlicher mit dem Geburtstagskind zu beschäftigen: Friedrich Wilhelm Raiffeisen erblickte vor genau 200 Jahren das Licht der Welt.
Kreisgebiet. Auf den Tag vor 200 Jahren, am 30. März 1818, wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen in Hamm an der Sieg geboren. Zeitlebens blieb er Westerwälder. Seine Ideen gingen um die Welt. Im Raiffeisen-Jahr 2018 gibt es nicht nur im „Raiffeisenland“ im Westerwald zahlreiche große und kleinere Veranstaltungen, die Leben und Werk Raiffeisens sowie die Bedeutung der Genossenschaftsidee für die Gegenwart würdigen.
Der Mensch Raiffeisen ist eher unbekannt
Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa zum Raiffeisen-Jahr 2018 zeigt: Zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland (64 Prozent) sind der Meinung, dass Genossenschaften für mehr Gerechtigkeit sorgen. Bei den unter 30-Jährigen sind das sogar 70 Prozent. Drei Viertel der Befragten halten die Wirtschaftsform für zeitgemäß. Nur jeder Zehnte (11 Prozent) denkt, dass Genossenschaften nicht mehr der Zeit entsprechen. Von den Befragten verbinden 79 Prozent Genossenschaften mit Banken, 76 Prozent mit Landwirtschaft und 73 Prozent mit Wohnungen. 90 Prozent geben an, dass sie bereit wären, einer Genossenschaft beizutreten, die sich für ihre Belange einsetzt. Allerdings verknüpfen nur vier Prozent der Befragten „Raiffeisen“ mit einer Person oder kennen Friedrich Wilhelm Raiffeisen als Vater der Genossenschaftsidee, die durch die UNESCO 2016 ins Immaterielle Kulturerbe der Menschheit aufgenommen wurde. So darf der Geburtstag auch in seiner Heimat Anlass sein, den Lebensweg Raiffeisens zu skizzieren.
Marx schrieb, Raiffeisen handelte
Im gleichen Jahr wie Karl Marx geboren, wollte Raiffeisen das Leben der hungernden Bauern verbessern. Deshalb entwickelte er seine Idee und wurde zu einem der Väter des Genossenschaftswesens in Deutschland und weltweit. Stichwort Marx: Ein Aktionsplakat des Raiffeisen-Jahres charakterisiert den Macher Raiffeisen: „Er schrieb nicht ‚Das Kapital‘. Er nahm es in die Pflicht.“ Wie kam er dazu? In den ersten Jahren prägten die tief religiöse Mutter und sein Patenonkel, Pfarrer Seippel, Raiffeisens Erziehung. Die Armut der Familie verhinderte eine höhere Schulbildung des begabten Jungen. Sein Patenonkel förderte ihn aber weit über das Schulwissen der Zeit hinaus. Als 17-Jähriger verpflichtete sich Raiffeisen beim Militär. Nach fünf Jahren musste er wegen eines Augenleidens ausscheiden. Nach kurzer Tätigkeit in der preußischen Verwaltung in Koblenz wurde er in die Kreisverwaltung Mayen in der Eifel versetzt.
Mutige Entscheidung eines überzeugten Christen
Seine Vorgesetzten erkannten die Begabung Raiffeisens und schickten ihn bereits 1845 als Bürgermeister nach Weyerbusch. Dort wurde er schon kurz nach seinem Amtsantritt vor große Herausforderungen gestellt: Eine Hungersnot drohte. Viele Bauern waren verarmt und konnten sich nicht mehr das Mehl leisten, um Brot zu backen. In dieser Situation erhielt Raiffeisen eine Kornlieferung von der Regierung, die er an die Armen verkaufen sollte. Wie sollten die Bauern das Korn bezahlen? Raiffeisen, der überzeugte Christ, traf eine mutige Entscheidung und gab das Getreide gegen Schuldscheine an die Bauern aus, obwohl er dadurch sein Amt riskierte. Er gründete den „Brodverein“ und war erfolgreich. Er überzeugte wohlhabende Bürger, finanzielle Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Damit konnte der Bürgermeister zunächst das Korn bezahlen. Mehr noch: Er kaufte Kartoffeln und Saatgut und baute ein Backhaus, in dem günstig Brot gebacken werden konnte. Seine Strategie zahlte sich aus. Als im nächsten Jahr die Ernte wieder besser war, konnten die Bauern ihre Schulden bezahlen. Woher er die Motivation zu seinem Handeln nahm? „Mit großer Wahrscheinlichkeit lag sie in seinem christlichen Glauben begründet“, schreibt der Hammer Pfarrer Professor Dr. Dr. Michael Klein in seinem aktuellen Buch „Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Christ – Reformer – Visionär“. „Dass ihm gerade in den Armen nach Mt 25 die ‚geringsten Brüder‘ Christi entgegen traten, bewegte ihn wohl zu solchem Vorgehen. So hatte er es in seinem religiösen Unterricht gelernt“, so Klein weiter.
So sehr Raiffeisens Wirken als Weyerbuscher Bürgermeister heute mit der Gründung des „Brodvereins“ verbunden ist, so wenig darf vergessen werden, dass er als Kommunalpolitiker auch Infrastruktur und Bildung der Landbevölkerung im Blick hatte – und handelte: „So sorgte er dafür, dass ein öffentlicher Schulbau in seiner Bürgermeisterei entstand“, schreibt Klein. Und: „Ein weiterer Schwerpunkt seiner Tätigkeit war der Ausbau der damals noch sehr mangelhaften Infrastruktur, besonders im Straßenbau.“
In Heddesdorf entstand der Darlehnskassen-Verein
1848 wurde Raiffeisen ins benachbarte Flammersfeld versetzt. Dort setzte er sich intensiv mit den Geldverleihern, die Wucherzinsen verlangten, auseinander. Um ihnen das Handwerk zu legen und um die Menschen vor ihnen zu schützen, gründete er den „Hülfsverein für die unbemittelten Landwirthe“. Es gelang ihm, 60 Familien dafür zu gewinnen, Mittel in diesen Hülfsverein einzubezahlen, um den vom Wucher und Hunger bedrohten Familien zu helfen. Noch waren nur die Geldgeber Mitglied im Hülfsverein – nicht die Mittelempfänger. Erst im Darlehnskassen-Verein von Anhausen und Heddesdorf im heutigen Neuwied, wo er 1852 Bürgermeister wurde, mussten die Kreditnehmer Mitglied des Vereins werden. Ein wichtiger Entwicklungsschritt wurde hier vollzogen. Die Grundlagen für die Raiffeisen- Genossenschaften waren endgültig gelegt – und die für ein alternatives Wirtschaften.
Mit 47 Jahren musste Raiffeisen 1865 aus gesundheitlichen Gründen sein Bürgermeisteramt in Heddesdorf aufgeben. Trotz eines Augenleidens widmete er sich mit all seiner Kraft der Weiterentwicklung des Genossenschaftswesens. So veröffentlichte er 1866 sein Buch „Die Darlehnskassenvereine als Mittel zur Abhülfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“. Das Buch, das zu Raiffeisens Lebzeiten – er starb 1888 – fünf Auflagen hatte, zeigte die Leitlinie seines Wirkens und wurde die Handlungsanleitung zur Gründung der Genossenschaften. Immer mehr wurde die Genossenschaftsidee zum Erfolgsmodell im ländlichen Raum.
Genossenschaften im Westerwald
Die Kuriere werden die Raiffeisen-Feierlichkeiten des Jahres 2018 in der Region natürlich begleiten. Wir werden aber in loser Folge auch Unternehmen und Organisationen in den Kreisen Altenkirchen, Neuwied und Westerwald vorstellen, die in unterschiedlichen Feldern genossenschaftlich arbeiten – Energie, Wohnen, Nahversorgung, Schulen. (PM/as)
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