Gehörlos im Karneval
Ist sie stiller als andere, diese Karnevalsveranstaltung? Oder bilde ich mir das nur ein, weil ich es erwartet hätte? Denn leise ist es beileibe nicht. Gläser klirren, Stühle werden gerückt. Und Menschen artikulieren sich. Aber ich verstehe sie nicht. Als Einzige im Saal unter rund 60 Menschen.
Herborn-Burg/Westerwald. Pfarrer Detlef Schmidt hat mich zu einer Karnevalssitzung der Gehörlosen Seniorengemeinschaft Mittelhessen ins Bürgerhaus nach Herborn-Burg eingeladen. Detlef Schmidt ist seit 1990 als Gehörlosenseelsorger der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) für rund 200 Menschen in einem großflächigen Gebiet zwischen Marburg, Biedenkopf, Herborn, Gießen und dem Westerwald zuständig. Gehörlosenseelsorge ist gebärdensprachlich orientierte Gemeindearbeit. Sie vertritt die Interessen der evangelischen Gehörlosen in der Kirche. Schon lange möchte ich über diese interessante Arbeit berichten.
Ich lerne auf der Karnevalssitzung Gerhard Dimmerling kennen. Der 91-jährige aus Bischoffen ist Ehrenmitglied in der Gehörlosengemeinschaft. Jeder hier kennt ihn. Er plaudert mit mir. Ich verstehe jedes Wort. Tonfall, Wortwahl, Lautstärke sind völlig unauffällig. Aber wenn ich ihm antworte, hört er nichts. Seine Welt ist stumm, seit ihm im Alter von 17 Jahren der Krieg das Gehör nahm. Er versteht nur, was er mir von den Lippen ablesen kann.
Er erzählt mir eine Geschichte, die mich bewegt. Kurz nach seiner Verwundung gibt es einen geselligen Abend im Lazarett. Er ist der einzige Gehörlose. Es gibt einige Aufführungen, es wird gelacht. Gerhard Dimmerling nicht. Er versteht nichts. Ihm wird klar: Ich bin zwar hier. Aber ich kann nicht teilnehmen. Ein zentrales Problem der Gehörlosen, sagt Detlef Schmidt. „Für Gehbehinderte, zum Beispiel, besteht die Schwierigkeit darin, zum Veranstaltungsort hin zu kommen. Gehörlose können überall hin. Aber wenn sie dort sind, ist ihnen die Teilhabe verwehrt.“
So entwickelt sich eine eigene Kultur unter Gehörlosen, die gleichen Erfahrungen mit Ausgrenzung aus der Gesellschaft prägen sie. Der Wortschatz von Gehörlosen ist oft weniger groß. „Manche abstrakten Begriffe sind Gehörlosen, die von Geburt an taub sind, kaum zu vermitteln", sagt Pfarrer Schmidt, „denn die Begriffswelt des Menschen baut sich über das Hören auf."
Detlef Schmidt hat eigens die Gebärdensprache gelernt. „Das Schwierige ist, dass sie die Lautsprache nicht Wort für Wort übersetzen kann. Sie funktioniert über Bilder“, sagt er. Beide Zeige- und Mittelfinger vom Hals abwärts geführt, deutet das „Beffchen“ am evangelischen Talar an. Die Bedeutung: Evangelisch. Katholisch dagegen: Daumen und Zeigefinder breit von links nach rechts über den Kehlkopf steht für das „Kollar“, den klerikalen Stehkragen.
Medizinisch gesehen sind Menschen gehörlos, die erst ab 90 Dezibel hören könnten, was vergleichbar mit der Lautstärke eines vorbeirasenden Motorrads ist. Die Lautstärke eines normalen Gesprächs liegt bei rund 55 Dezibel. Für die Zugehörigkeit in der Gehörlosenkultur ist aber die Beherrschung der Gebärdensprache das Hauptmerkmal.
In Deutschland leben ungefähr 80 000 gehörlose Menschen. Aber was es heißt, gehörlos zu sein, wissen nur wenige außerhalb. Eine, die es weiß, ist Theresia Möbius aus Bad Endbach. Als hörende Tochter gehörloser Eltern ist es ihre Lebensaufgabe geworden für Gehörlose zu dolmetschen. Ein überaus weites Betätigungsfeld. Gehörlose brauchen oftmals beim Arzt Hilfe, bei Gericht – sogar ein Gespräch mit dem Vermieter stellt mitunter vor schwierige Hürden. Hier Verständigung herzustellen ist für Theresia Möbius eine Herzenssache: „Gehörlose werden so oft nicht wahrgenommen, Rollstühle und Blindenstöcke werden gesehen. Aber der Gehörlose wirkt auf den ersten Blick nicht hilfsbedürftig.“ Und sie erzählt, wie sie bei Ausflügen mit Gehörlosen ans Mainufer nach Frankfurt regelmäßig Fahrradfahrer zur Ordnung ruft, die laut klingelnd versuchen, die Gehörlosen zum Ausweichen zu bewegen.
„Es geht darum Kommunikation wieder aufzunehmen oder zu verbessern. Das geschieht bei gemeinsamen Unternehmungen. Die Gemeinschaft ist sehr wichtig, da sie die Isolation aufbricht, in die Gehörlose leicht geraten können“, sagt Pfarrer Schmidt. „Gehörlose wollen ihre Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen leben, als Seelsorger möchte ich ihnen dabei helfen.“ Zweimal im Monat bietet er Gehörlosen-Gottesdienste in Biedenkopf-Wallau und Herborn an. Er steht für Taufen, Trauungen und Beerdigungen von gehörlosen Menschen zur Verfügung. Darüber hinaus begleitet er Tagesfahrten, wie zum Beispiel in den Schmetterlingspark nach Bendorf oder ins Technikmuseum nach Speyer. Auch Mehrtagesfahrten nach Amsterdam, Berlin oder Hamburg standen schon auf dem Programm. Austausch und Anregungen holt sich Schmidt durch seine Mitarbeit in der DAFEG, der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für evangelische Gehörlosenseelsorge. Die Vernetzung ermöglicht, dass die Arbeit für Gehörlose überhaupt gesellschaftspolitisch wahrgenommen wird und gleichzeitig ein gleicher Informationsstandard der tragenden Personen erzielt wird.
Ein Nachmittag mit sehr viel Gastfreundschaft neigt sich dem Ende zu. Mir wurden Kaffee, kalte Getränke und Kuchen gereicht und viele freundliche Begegnungen angeboten. Das schönste Karnevalskostüm wurde prämiert, eine Lotterie ausgespielt und zahlreiche Büttenreden gehalten. Detlef Schmidt verabschiedet mich und ich gehe unter dem Eindruck seiner wertvollen Arbeit und der anderen Kultur, die sich mir eröffnet hat, nach Hause. (shg)
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