Impulse zum Thema Organspende: Interview mit Chefarzt PD Dr. Michael Fries
In Deutschland hoffen rund 9.400 schwer kranke Menschen auf die Transplantation eines Organs. Dem stehen 842 gespendete Organe gegenüber (ohne Lebensspenden)*. Rund 84 Prozent der Bevölkerung stehen der Organspende positiv gegenüber, aber nur 36 Prozent haben tatsächlich einen Organspende-Ausweis. Um die Zahlen potentieller Organspender zu erhöhen, sollen die gesetzlichen Voraussetzungen reformiert werden: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn forciert die sogenannte Widerspruchslösung (wer nicht ausdrücklich widerspricht, dem werden im Falle seines Hirntods Organe entnommen), daneben gibt es interfraktionelle Gesetzentwürfe, die mehr Differenzierungen vorsehen wie beispielsweise verbindliche, regelmäßige Befragungen.
Limburg. Wir erhielten ein Interview über das ebenso hochaktuelle wie hochsensible Thema mit dem Chefarzt der Anästhesie des St. Vincenz-Krankenhauses, PD Dr. Michael Fries, in dessen Abteilung auch der Transplantationsbeauftragte der Klinik angesiedelt ist. Fries ist zudem stellvertretender Ärztlicher Direktor und Mitglied im Ethikkomitee der Klinik.
Wie stehen Sie persönlich zum Vorschlag der Widerspruchslösung?
Fries: Ich habe während meiner langjährigen Tätigkeit am Universitätsklinikum Aachen häufig Gespräche mit den nächsten Angehörigen potentieller Organspender geführt. Diese Menschen sind in einer extremen Situation. Zum einen müssen Sie gerade bewältigen, dass ihr geliebter Partner, Kind, Bruder oder Schwester verstirbt und darüber hinaus seine körperliche Unversehrtheit zerstört wird. Auf der anderen Seite haben schon auch viele den Wunsch, dass der Tod wenigstens für etwas gut gewesen sein soll, indem mit den Organen anderen Menschen geholfen wird. Eine pauschale Lösung wird es so nicht geben. Die Kultur in Richtung der Widerspruchslösung lässt sich aber natürlich gehen. Es wird allerdings viel Arbeit notwendig sein, um die Bevölkerung zu informieren. Wer widersprechen will, muss sich dann ja auch zwangsläufig intensiver mit dem Thema befassen. Ich persönlich könnte damit leben.
Wird diese Lösung unsere Gesellschaft tatsächlich dazu bringen, sich ernsthaft inhaltlich mit dem Pro und Contra der Organspende auseinanderzusetzen oder wird sie viele Befürworter eher verschrecken?
Fries: Letzteres glaube ich nicht. Wer inhaltlich überzeugt ist, würde ja sowieso spenden. Die Auseinandersetzung würde auf jeden Fall intensiver. Das Thema sollte meiner Meinung nach dann auch im Schulunterricht behandelt werden.
Wenn der Hirntod diagnostiziert wird, werden die Angehörigen automatisch auf eine mögliche Organspende angesprochen. Gibt es nicht kaum einen ungünstigeren Moment, dieses Thema anzusprechen, schließlich müssen sich die Angehörigen gerade mit dem Verlust eines geliebten Menschen auseinandersetzen?
Fries: Das ist auf jeden Fall richtig, aber unumgänglich. Eine im Vorfeld geführte, breitere Information der Bevölkerung und jedes Einzelnen wird hier helfen. Allerdings ist es meiner Erfahrung nach oft zweierlei, über etwas theoretisch zu philosophieren und etwas leibhaftig zu erleben. Ich habe auch schon Fälle erlebt, in denen der Hirntote einen Spenderausweis hatte, der Partner aber nicht einverstanden war. In diesen Fällen wird aktuell eher sehr zurückhaltend verfahren, auch wenn es rechtlich möglich wäre, in dieser Konstellation Organe zu entnehmen. In jedem Fall sind mehrere, intensive Gespräche nötig.
Haben Sie im klinischen Alltag überhaupt genug Zeit, um dieses Thema empathisch anzusprechen und ausreichend aufzuklären?
Fries: Ja. Diese Zeit nehmen wir uns für alle Angehörigen auf der Intensivstation. Die Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation sind darüber hinaus im Falle einer Organentnahme ebenfalls sehr aktiv und reduzieren den administrativen Aufwand für uns Ärzte deutlich.
Sind die Ängste vieler Bürger vor einer Fehldiagnose des Hirntods - der Bedingung für jegliche Organspende - auszuschließen? Ist Hirntod tatsächlich sicher zu diagnostizieren?
Fries: Die aktuelle Novellierung der Voraussetzungen zur Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls (so heißt der Hirntod im Fachjargon) hat klare Definitionen und muss an aufeinanderfolgenden Zeitpunkten und durch zwei in diesem Feld erfahrene Fachärzte festgestellt werden. Darüber hinaus kommen aufwändige und zuverlässige apparative Untersuchungen hinzu. Der ganze Prozess kann sich über zwei bis drei Tage ziehen, was der Tragweite der Diagnose auch gerecht wird.
Empfindet ein hirntoter Mensch Schmerz?
Fries: Nach allem was wir wissen nicht. Wie wird in einem Verfahren, das schnelle Entscheidungen erfordert, um ein lebensfähiges Organ transplantieren zu können, die Verantwortung vor der Würde des Menschen gewährleistest? Die Würde des Menschen ist jederzeit im Fokus unserer Bemühungen auf der Intensivstation. Also auch bei einem Hirntoten. Die Zeit nach Feststellung des Hirntodes bis zur Organentnahme wird durch intensivmedizinische Maßnahmen überbrückt. Alle anderen Organe funktionieren ja in aller Regel ohne Einschränkung.
Auch verschiedene Skandale haben das Vertrauen der Menschen in gute Kontrollmechanismen bei der Organspende erschüttert – können Sie etwaige Manipulationsverfahren ausschließen?
Fries: Die Mechanismen, wohin ein Spenderorgan geht, sind in meinen Augen gut kontrolliert und in den letzten Jahren, auch als Folge der Unregelmäßigkeiten, weiter angepasst worden. Patienten, die potentielle Empfänger sind, werden regelhaft in interdisziplinären Konferenzen besprochen und so von vielen Fachärzten eingeschätzt, die am Ende alle einstehen müssen, wenn die Entscheidung zur Listung getroffen wird.
Viele Menschen haben Angst, es werde im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht mehr alles medizinisch Mögliche für sie getan, wenn sie bereits einen Organspendeausweis haben….
Fries: Diese Sorge ist meiner Meinung nach unbegründet. Die oberste Maxime aller Ärzte ist der Erhalt des Lebens. Erst wenn wir merken, dass unsere Bemühungen vor dem Hintergrund der schweren Schädigung des Gehirns sinnlos sind, schwenken wir in Richtung einer sog. organerhaltenden Therapie um und beginnen mit den Angehörigen über eine potentielle Organspende zu sprechen.
Wie viele Explantationen werden vom St. Vincenz-Krankenhaus jährlich vermittelt?
Fries: In den letzten vier Jahren hatten wir nur eine Organentnahme im St. Vincenz. Das liegt aber nicht an unserer Bereitschaft, sich des Themas anzunehmen. Zum einen nimmt die Zahl schwerer Schädel-Hirn-Verletzungen stetig ab, zum anderen behandeln wir solche extremen Verletzungen nicht. Diese Patienten werden häufig direkt vom Unfallort oder nach Erstbehandlung bei uns weiterverlegt. Es sind Gründe, die übrigens auch in anderen Häusern zu finden sind.
Haben Sie persönlich einen Organspendeausweis?
Fries: Nein, aber meine Frau wüsste was ich möchte.
Hintergrund-Informationen* bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) www.organspende-info.de.
Jetzt Fan der NR-Kurier.de Lokalausgabe Dierdorf auf Facebook werden!
Weitere Bilder (für eine größere Ansicht klicken Sie bitte auf eines der Bilder): |