Wenn’s Vaterunser durch Neunkirchens Straßen schallt
Die „Gute Botschaft“ braucht nicht immer die Kirchenkanzel. Manchmal reicht ein enges Büroräumchen und ein Mikrofon, das aussieht wie eine Requisite aus „Raumschiff Orion“. Seit einigen Wochen ist das alte Rathaus in Neunkirchen der wahrscheinlich ungewöhnlichste Gottesdienstort im Westerwald. Denn hier, in einem Raum im ersten Stock, schlägt das Herz der Neunkirchener Dorfsprechanlage: ein aus der Zeit gefallenes Relikt, das in der Corona-Krise einen zweiten Frühling erlebt.
Neunkirchen. Mitte März verbietet die Bundesregierung gottesdienstliche Zusammenkünfte. Aus der Not heraus bieten viele Gemeinden Gottesdienste per Internet an. Die Evangelische Kirchengemeinde Neunkirchen geht einen anderen Weg: Seit den 1960er-Jahren sind im Ort rund 30 Lautsprecher montiert, über die vom alten Rathaus aus Durchsagen verkündet oder Musik gespielt werden. Wenn die Leute also nicht in die Kirche kommen dürfen, kommt die Kirche eben zu ihnen, denken sich die evangelischen Christen und bitten Ortsbürgermeister Hartmut Schwarz, die Sprechanlage für kurze Gottesdienste zu nutzen.
An Gründonnerstag schallt dann die erste Andacht von Pfarrerin Anja Jacobi durch die Straßen – live aus dem alten Rathaus Neunkirchen. „Sie beginnt immer mit Orgelmusik, die meine Tochter eingespielt und mit dem Handy aufgenommen hat. Dann merken die Leute: ,Hoppla, hier passiert was!‘, machen ihre Fenster auf und hören zu“, sagt Anja Jacobi. „Danach gibt‘s einen kurzen geistlichen Impuls; ich lese einen Psalm, spreche ein persönliches Gebet und schließe mit dem Vaterunser und dem Segen. Das Ganze dauert rund 15 Minuten und ist so gestaltet, dass man der Andacht auch dann noch folgen kann, wenn man mal ein paar Sätze nicht versteht.“
Denn so praktisch die Dorfsprechanlage ist: Die 60 Jahre Dienstzeit sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Der alte, kühlschrankgroße Röhrenverstärker wurde inzwischen durch ein neues, kompakteres System ersetzt; ab und an muss einer der schmucklos-grauen Phillips-Lautsprecher ausgetauscht werden; neulich wurden die ersten Minuten des Gottesdienstes nicht übertragen. „Aber im Großen und Ganzen läuft die Anlage noch einwandfrei“, sagt Ortsbürgermeister Hartmut Schwarz, der sie schon seit seiner Jugend kennt. „Für die Leute, die hier wohnen, gehört sie zum Dorfleben dazu. Wenn ich mit Kindern spreche, sind die immer ganz erstaunt, dass andere Orte sowas nicht haben.“
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Neben den Gottesdiensten kommt die Anlage für Durchsagen, bei Festen und für die Vereine zum Einsatz – wenn auch seltener als früher, sagt Hartmut Schwarz. „Damals haben wir noch für jeden Bürger über 65 ein Geburtstagsständchen gespielt. Da klangen dann regelmäßig Klassiker wie ,Ich hab Ehrfurcht vor schneeweißen Haaren‘ in den Gassen. Natürlich noch von Schallplatte. Irgendwann wollten das die Leute aber nicht mehr … wahrscheinlich aus Datenschutzgründen oder so.“
Die Neujahrsständchen sind hingegen nach wie vor beliebt: Wenn an Silvester die letzten Böllerschläge verklungen sind, schallt „Happy New Year“ durch die Straßen Neunkirchens, die Menschen treffen sich vor dem Rathaus und stoßen gemeinsam auf ein gutes Neues an. „Die Dorfanlage hat etwas Verbindendes“, meint Pfarrerin Anja Jacobi und möchte mit ihren altmodischen „Audiostreams“ vorerst weitermachen – auch wenn in Neunkirchen wieder Gottesdienste in der Kirche gefeiert werden dürfen. „Denn viele der Gottesdienstbesucher gehören zur Risikogruppe und werden noch nicht in die Kirche kommen“, sagt die Pfarrerin.
Die Neunkirchener hängen eben an ihrer alten Lautsprecheranlage. Zumindest die meisten. „Manche sind von den Dingern genervt“, gibt Ortsbürgermeister Schwarz zu und lächelt verschmitzt. „Die sagen: Wenn ´ne Durchsage kommt, schmeiß‘ ich aus Protest den Rasenmäher an. Als einer dann neulich wissen wollte, was ich denn Wichtiges zu verkünden hatte, habe ich nur geantwortet: Dann hättest Du halt nicht rasenmähen sollen.“ (bon)
Ab sofort feiert die Evangelische Kirchengemeinde Neunkirchen wieder reguläre Sonntagsgottesdienste in der Kirche. Die „Lautsprecherandachten“ gehen aber vorerst weiter: Sie starten sonntags um 19 Uhr und an jedem dritten Sonntag morgens um 9.30 Uhr.
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