Landwirte werben bei Kirchenvertretern um Verständnis
„Wir machen Türen auf“ – unter diesem Motto besucht das Evangelische Dekanat Westerwald seit mehreren Jahren Unternehmen der Region. 2020 ist die Tür eine besonders große. Genauer gesagt: so groß wie ein Scheunentor. Rund 30 Pfarrerinnen und Pfarrer, Dekanatsmitarbeitende und interessierte Gäste haben den Hubertushof in Irmtraut kennengelernt, einen landwirtschaftlichen Betrieb mit 300 Kühen und 200 Jungtieren. Milchviehhalter Matthias Müller stellte den Gästen nicht nur den Hof vor, sondern äußerte sich mit deutlichen Worten zum emotionalen Thema Landwirtschaft.
Irmtraut. Der Hubertushof ist einer von bundesweit knapp 267.000 landwirtschaftlichen Betrieben. Vor 40 Jahren waren es fast drei Mal so viele. Der Hof in Irmtraut produziert etwa drei Millionen Kilogramm Milch pro Jahr und damit nur einen kleinen Teil der 55 Millionen Kilogramm, die im Westerwald jährlich verbraucht werden. Noch weiter klaffen die Zahlen beim Fleisch auseinander, erklärt Matthias Müller, der auch Vorsitzender des Kreisbauernverbandes ist: „Die Menschen im Westerwald brauchen jährlich ungefähr 100.000 Schweine. Das Problem ist, dass nur 2000 Schweine aus dem Westerwald kommen und der Weltmarkt den Rest beisteuert.“ Das führt wiederum zu einem Preiskampf, und unter dem leiden letztlich auch die Landwirte der Region.
Auf der anderen Seite: das wachsende Bewusstsein für Nachhaltigkeit, ökologische Landwirtschaft, Tierwohl. Mit diesem Dilemma müssen auch die Wäller Landwirte zurechtkommen – was für viele eine riesige Herausforderung ist. Denn der Strukturwandel in der Landwirtschaft kostet vor allen Dingen Geld, ist aber kein neues Phänomen, wie Matthias Müller erklärt: „Erst in den 1950er-Jahren haben Traktoren die Pferde für die Arbeit auf dem Feld verdrängt. In den 1960er-Jahren kamen dann die Mähdrescher hinzu, und spätestens seit den 2000er-Jahren wird auch die Landwirtschaft digitalisiert. Die macht vieles einfacher und schont zudem die Umwelt.“ Im Hubertushof fahren zum Beispiel einige der Trecker autonom: Dank GPS-Steuerung und Lenkautomat tuckern sie auf den Zentimeter genau übers Feld. Das spart Energie ein und soll aufgrund optimierter Reifen auch wesentlich schonender für den Boden und dessen Lebewesen sein, erklärt der Landwirt.
So groß (und schmerzhaft) solche Investitionen für manche Betriebe auch sind: Der neuen Technik gehört die Zukunft, ist sich Matthias Müller sicher. „Was die Arbeits- und Tierbedingungen angeht, möchte ich keinen Tag zurückgehen. Da kommen wir stetig einen Schritt weiter.“ Die „alternative Landwirtschaft in Reinform“, wie er sie nennt, bleibt für ihn deshalb eher die Ausnahme, die es schwer haben wird, sich zu halten: „Als Betrieb muss man unternehmerisch denken. Sonst schafft man es nicht.“ Landwirte, die heute mit dem Rücken zur Wand stehen, haben etwas falsch gemacht, sagt er.
Dabei müssen unternehmerisches Denken und Tierwohl keine Gegensätze sein, glaubt er. Der Hubertushof hat beispielsweise als einer der ersten in der Region vor fast 50 Jahren den Boxen-Laufstall eingeführt, in dem Kühe im Gegensatz zur Anbinde-Haltung mehr Bewegungsfreiheit haben. „Außerdem ist das Futter gentechnikfrei“, sagt der Landwirt. Auf manche Dinge kann der Betrieb aber nicht verzichten. Wird eine Kuh krank, bekommt sie Antibiotikum. In die Milch kommt das Medikament dadurch aber nicht, versichert Müller: „Wir testen die Milch regelmäßig auf Antibiotika. Sollte der Test positiv ausfallen, müssen wir die Milch entsorgen, da ansonsten eine empfindliche Strafe droht.“ Von der homöopathischen Behandlung einer entzündeten Zitze hält der Landwirt allerdings nichts.
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Außerdem werden auch am Hubertushof die Kälbchen von ihren Müttern getrennt – und zwar unmittelbar nach der Geburt. „Wenn wir das erst nach ein paar Tagen oder nach ein, zwei Wochen tun, wäre das für Kuh und Kalb noch viel schlimmer“, sagt Matthias Müller. „Auch wenn das aus ethischer Sicht schwer nachvollziehbar ist: Falls beide direkt voneinander getrennt werden, kennen sie die Situation gar nicht anders.“
Es sind Themen wie diese, die die Diskussion um Landwirtschaft, Umweltschutz und Tierwohl oft aufheizen. Eine Diskussion, bei der sich Politik, Verbraucher, Landwirte und Umweltschützer gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. „Dabei bringt dieses gegenseitige Beschuldigen doch keinem etwas. Nachhaltig zu wirtschaften heißt: Einen Kreislauf zu etablieren, der darauf aus ist, sowohl Wirtschaftsgüter als auch unsere Natur zu erhalten. Wenn der Boden ausgelaugt ist, hilft das schließlich keinem.“ Außerdem dürften keine Menschen an den Pranger gestellt werden, unterstreicht er. Die Gäste der Kirche bittet er deshalb um Verständnis für die Landwirte – und übt durchaus harsche Kritik an manchen Umweltverbänden: „Wir sind eine Minderheit, denen Dinge oft zu Unrecht vorgeworfen werden“, beklagt er. „Deshalb: Machen Sie sich ein eigenes Bild davon, was von diesen Vorwürfen stimmt und was nicht. Und sollten Sie erleben, dass ein Landwirt im wahrsten Sinne des Wortes Mist baut: Sprechen Sie ihn an. Lassen Sie uns nicht gegeneinander schießen, sondern den Strukturwandel gemeinsam vollziehen.“ (bon)
Im Detail: Kirche besucht die Betriebe der Region
„Wir machen Türen auf“ ist ein Projekt des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Jedes Jahr lädt es ein, Betriebe im Bereich der Landeskirche kennen zu lernen. Das aktuelle Programm widmet sich dem Thema Ernährung und beleuchtet, wie Unternehmen den Herausforderungen einer nachhaltigen, ökologischen Landwirtschaft oder Produktion begegnen.
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