Nicole nörgelt – über Wutbürger
GLOSSE | Manchmal frage ich mich wirklich, woher all diese Wut kommt. Steigt der Wille, sich zu ärgern, mit dem Maß an Wohlstand, in dem man lebt? Wird die Angst, jemand könnte einem die Butter vom Brot nehmen, proportional größer mit dem Angebot auf der Frühstückstafel? Verleitet das Leben in Sicherheit dazu, laut gegen alles zu schreien, was sie gewährleistet?
Region. Ich will an dieser Stelle nicht philosophisch werden, ich bin nur ein Landkind, das sich um Leib und Leben nie viele Sorgen machen musste. Umso mehr wundert es mich, wie immer größere Teile einer Gesellschaft immer lauter gegen genau diese schreit, sobald sie einfordert, wovon alle über Jahrzehnte gut gelebt haben.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich gibt es dieser Tage viele, die Grund hätten frustriert und wütend zu sein oder sich betrogen zu fühlen. Die Gastwirte und Hoteliers, die nach Monaten der Schließung vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Die Schausteller, Künstler und Kulturtreibenden, die seit dem Frühjahr ohne Einnahmen über die Runden kommen müssen. Die Pflegekräfte, die auf dem Zahnfleisch gehen und für ihre Arbeit außer wohlmeinendem Klatschen keine Zulage von irgendwas gesehen haben. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Aber von denen sehe ich die wenigsten krakelen. Wie viele Frisöre stehen vor ihren Läden und brüllen „Lügenpresse!“? Wie viele Lehrer empfehlen ihren Klassen, die Masken wegzuschmeißen, weil man sich an aufgebauschtem Blödsinn nicht anstecken kann? Und welcher Arzt nimmt seinem Patienten die Atemmaske weg mit dem freundlichen Hinweis, sich wegen ein bisschen Husten gefälligst nicht so anzustellen?
Hey, lasst uns doch gleich die Airbags aus dem Autos reißen, meiner ist noch nie aufgesprungen, wofür ist das Ding dann gut? Und raus mit den Rauchmeldern aus der Wohnung, bei mir hat es eh noch nie gebrannt, diese Kästen sehen doch nur hässlich an meiner schönen Decke aus. Einbruchsichere Fenster und Sicherheitsschlösser an der Tür? Blödsinn! Wird schon kein Einbrecher kommen. Und wenn doch, dann war es der Staat schuld, der sich nicht rechtzeitig darum gekümmert hat. Oder zu viel. Oder was weiß ich.
Am Wütendsten kommen mir die vor, die eigentlich noch ganz gut zurechtkommen. Die, die genug Zeit haben, sich über Maskenpflicht aufzuregen und in nur schwer definierbaren Quellen nach genau den Pseudo-Infos zu suchen, die grade in ihr Weltbild passen. Die Sache mit der Gesellschaft ist da plötzlich nicht mehr wichtig. Es spielt keine Rolle mehr, dass wir jedes Mal, wenn wir keine Maske tragen oder uns entscheiden, Kontaktverbote zu ignorieren, für etliche andere mitentscheiden. Ich bin jung und gesund, was kümmert es mich, wenn ich mich infiziere und die alte Dame, die beim Bäcker neben mir steht, anstecke? Das Nachbarskind, das morgens in der Schule fröhlich Viren schleudert, die die halbe Klasse dann zu ihren Familien mit nach Hause nimmt? Wird schon keiner dran sterben. Zumindest keiner, den ich kenne. Also, was soll’s?
So zu denken wäre nur dann angebracht, wenn man tatsächlich auf einer einsamen Insel lebt, auf der man allein in seiner Blätterhütte unter der Palme sitzt. Vielleicht sollten sich die vielen Wütenden ein schönes Stück Wüste kaufen, irgendwo im Niemandsland, und sich dort ihren utopischen Staat der Freiheit, Wahrheit und uneingeschränkten Entscheidungen aufzubauen. Den ganzen doofen Wohlstand, die blöden Vorschriften und die Infrastruktur, die uns hier ein angenehmes Leben ermöglichen – zumindest solange man nichts dafür tun muss, um sie zu erhalten –, die lasst dann einfach hier, ist doch alles unnötiger Firlefanz.
Nur den Wendler – den nehmt bitte, bitte mit!
In diesem Sinne, bleiben Sie gesund.
Ihre Nicole
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