Bericht zur sozialen Lage im Westerwald
Aus der lange andauernden Corona-Krise droht im Westerwald eine soziale Krise zu werden! Sowohl ältere Menschen und chronisch Kranke wie beispielsweise auch Pflegebedürftige, Einkommensschwache und Menschen mit Behinderung drohen im weiteren Verlauf der Pandemie abgehängt zu werden.
Region. Erschwerend kommt hinzu, dass Solidarität und Gemeinsinn schon lange außer Mode sind. Darauf weist das Forum Soziale Gerechtigkeit hin und macht sich dafür stark, dass die gesellschaftliche Ungleichheit zwischen dem Kannenbäckerland im Süden und der Kroppacher Schweiz im Norden nicht weiter zunimmt.
In Erwartung froher Impfereignisse halten Staat und Unternehmer die Wirtschaft einigermaßen in der Spur. Die Wäller versuchen weiterhin die Seuche zu verlangsamen und einzudämmen, möglichst viele Leben zu retten: das hat oberste Priorität, so sehr die Einschränkungen persönlicher Gewohnheiten oder drohende materielle Notlagen auch schmerzen. „Der Jahreswechsel ist eine gute Gelegenheit darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll, damit künftig nicht noch mehr Menschen durch den gesellschaftlichen Rost fallen und aufs Abstellgleis geschoben werden“, meint Forumssprecher Uli Schmidt. Die Sorgen um den fehlenden sozialen Zusammenhalt im Westerwald sind berechtigt, wie an vielen Beispielen zu belegen ist.
Da sind zunächst die Auswirkungen auf den in unserer Region bisher stabilen Arbeitsmarkt zu sehen. Negativ wirkt sich die Krise hier insbesondere bei der Langzeitarbeitslosigkeit aus, die im November gegenüber dem Vorjahr im Westerwaldkreis um 69,3 Prozent zugenommen hat – das ist ein Anstieg um 503 Betroffene. Auch der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen wird hart getroffen: Hier gibt es eine Zunahme von 60 Personen oder 29 Prozent. Ein Jobverlust trifft diese Menschen ungleich härter, zumal insgesamt auch die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt einen deutlichen Rückschlag erlitten hat. Hinzu kommt: trotz meist geringem Verdienst und schlechter Absicherung trifft auch der starke Rückgang an Minijobs viele Menschen kreisweit.
Angesichts der Tatsache, dass aktuell im Westerwaldkreis rund 41.000 Menschen an den Folgen einer Suchterkrankung leiden, ist dieser Bereich auch von besonderer Bedeutung. Allein 800 Betroffene und weitere 200 Angehörige werden jährlich von der Sucht- und Drogenberatung des Diakonischen Werkes beraten und begleitet. Das Team weist auf die feststellbare Zunahme des Konsums von Suchtmitteln in der Pandemie, verbunden mit weiterem Personalbedarf, hin. Bei den Fachkräften des Caritasverbandes wird dies vermutlich ähnlich bewertet. Hinzu kommt die Schätzung von Fachleuten, dass immer mehr Jugendliche internetsüchtig werden. Dies hat nicht selten zur Folge, dass die Betroffenen nicht mehr zur Schule oder Arbeit gehen und vor dem Computer verwahrlosen.
Von Einkommensverlusten in der Krise sind überdurchschnittlich oft Menschen betroffen, die schon zuvor benachteiligt waren. Dadurch werden bereits bestehende soziale Ungleichheiten weiter verschärft. Wenigverdiener arbeiten kreisweit öfter im sozialen Bereich, in der Gebäudereinigung oder im Supermarkt – häufig verbunden mit einem vergleichbar geringeren Einkommen und einem fehlenden sozialen Netzwerk. Auf die hier wirkenden Mechanismen hatte das Forum Soziale Gerechtigkeit bereits in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung unter anderem bei einer breit angelegten Veranstaltung im Bürgerhaus Siershahn zum Thema gesellschaftliche Ungleichheit hingewiesen.
Nicht zuletzt auch die Altenpflege im Westerwaldkreis leidet besonders unter den Folgen der Pandemie, auch wegen immer mehr fehlender und derzeit total überlasteter Fachkräfte. Dies gilt nicht nur für die 26 stationären Seniorenpflegeheime und 34 ansässigen Pflegedienste, sondern insbesondere auch für die Situation der pflegenden Angehörigen. Ohne diese wäre das System der Pflege schon lange zusammengebrochen. Der Bundesgesetzgeber hat hier bereits erste Schritte zu einer Entlastung umgesetzt. Aber mit den Auswirkungen der Corona-Krise ist die Belastungsgrenze für viele mitpflegende Angehörige endgültig überschritten. Hier ruhen Hoffnungen in den westerwälder Verbandsgemeinden insbesondere auf der durch Landessozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler eingeführten „Gemeindeschwester plus“ als Bindeglied zwischen Betroffenen und Hilfeangeboten. In der VG Höhr-Grenzhausen läuft das Projekt bereits erfolgreich. Andere Verbandsgemeinden werden hoffentlich bald folgen.
Verstärkt werden die Ungerechtigkeiten beim Zugang zur Bildung. Weitere Schulschließungen sind zu vermeiden, da besonders schnell Kinder aus sozial schwachen Familien oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei der Teilhabe an Bildung benachteiligt werden. Da kommen auch besonders engagierte Lehrkräfte an ihre Grenzen. Die Mutter eines 15-jährigen Jungen, der im Kreis eine Förderschule besucht, meint dazu: „Unsere Kinder stehen ohnehin am Rand der Gesellschaft – durch Corona wurden sie noch weiter ausgegrenzt“.
Einflussreiche Verbände wie der VdK fordern schon lange eine gesetzliche Pflicht zur Barrierefreiheit. Der Kreisverband Westerwald setzt sich mit seinem Vorsitzenden Walter Frohneberg auch vor Ort nachhaltig für notwendige Verbesserungen ein. Die „Öffentliche Hand“ macht derzeit nachvollziehbar Schulden in Rekordhöhe, um die Folgen der Krise einigermaßen gut zu überstehen. Dabei droht dringend gebotener Handlungs- und Investitionsbedarf im Westerwald in die weitgehend noch fehlende Barrierefreiheit (auch im ÖPNV) in Vergessenheit zu geraten – sehr zum Nachteil vieler älterer und köperbehinderter Menschen.
Nicht zuletzt die bei einigen heimischen Bevölkerungsgruppen gefährlich steigende Verschuldung muss in den Blick genommen werden. Eine große Herausforderung ist die Pandemie deshalb unter anderen für die Schuldnerberatung des Caritasverbandes Westerwald-Rhein-Lahn, da die Krise viele Menschen in der Region in eine schwierige finanzielle Lage gebracht hat. Rolf Günther weist als langjähriger Mitarbeiter auf eine schnelle Zunahme von aktuell Betroffenen aus der Gastronomie und der Eventbranche hin.
Der Kreishaushalt verrät seit einem Jahrzehnt, dass auch die Altersarmut ständig zunimmt. Ein Beleg dafür sind die steigenden Ansätze für die Grundsicherung im Alter, die nach der Coronakrise explodieren könnten. Auch der Kreisaufwand für die „Hilfe zur Pflege“ fällt immer mehr ins Gewicht: der Ansatz steigt von 10,63 Millionen in 2020 auf 11,56 Millionen Euro im nächsten Jahr. Daneben ist zu erwarten, dass die Zahl der Senioren, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, dramatisch zunimmt. Auch steigende Mieten als Folge einer bereits spürbaren Landflucht wegen zu hoher Mieten in den Ballungsgebieten werden zunehmend problematisch.
Aber, wo Gefahr ist wächst bekanntlich auch das Rettende (so Hölderlin)! Die Gefahr wird im Westerwaldkreis durch den Einsatz von vielen engagierten Leuten in den Wohlfahrtsverbänden und Sozialorganisationen, in Einrichtungen, Tafeln und Selbsthilfegruppen begrenzt. Das Rettende muss durch eine in Teilen neu ausgerichtete Sozialpolitik gestärkt werde, bevor der berechtigte Frust der Verlierer die Demokratie weiter beschädigt. Wichtig ist auch, dass auf die biologische Pandemie nicht eine noch viel gefährlichere digitale Pandemie folgt.
Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer: so beispielsweise die zu erwartende Stärkung von wohnortnahen Einkaufsmöglichkeiten, etwa in Form von (auch mobilen) Dorfläden. Oder die Zunahme von Wohngemeinschaften oder ähnlichen Wohnprojekten für ältere Menschen. Eine der wenigen erfreulichen Nebenwirkungen der Corona-Epidemie sind die sinkenden Umfragewerte von AfD und anderen rechtsextremen Gruppen, die sich hoffentlich für den Westerwald bei der Landtagswahl 2021 bestätigen. Hoffnungsvoll auch, dass die Hilfsbereitschaft vieler Wäller offensichtlich zunimmt (auch wenn es hierzu keine Daten gibt).
Das Forum Soziale Gerechtigkeit hofft, bald zu möglichst vielen der genannten Themenbereiche zu einer der vor Corona üblichen monatlichen Veranstaltungen einladen zu können. Unter Einbeziehung von Fachleuten, Betroffenen und Kooperationspartnern will das Sozial-Netzwerk weiter auf die drängendsten Probleme hinweisen und mit nach Lösungen suchen. Da sowohl linke als auch bürgerliche Parteien in den Kommunen des Westerwaldes diese Funktion immer weniger ausfüllen, müssen andere dies übernehmen, um nicht den Rechtspopulisten das Feld zu überlassen. Forumssprecher Uli Schmidt ist jederzeit erreichbar unter uli@kleinkunst-mons-tabor.de. (PM)
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