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Nachricht vom 01.04.2021
Region
Zu späte oder gar keine Behandlung für psychisch Kranke im Westerwald?
Ein Jahr Pandemie hat auch im Westerwald seine Spuren hinterlassen, viele „Wäller“ sind genervt und chronisch erschöpft. Allein durch die erzwungene Vereinsamung ist bei vielen Kindern und Erwachsenen erhebliches psychisches Leid endstanden.
Nicht nur in Krisenzeiten ist es für Menschen mit einer psychischen Erkrankung wichtig eine gute Arbeit zu haben – davon überzeugte sich eine Delegation des Forums Soziale Gerechtigkeit bei der Inklusionsfirma Garten- und Landschaftsbau Jörg Deimling in Astert. Foto: privatRegion. Die psychische Belastungsfähigkeit wird strapaziert, das Hilfesystem für psychisch Erkrankte ist extrem belastet. Ist derzeit fachgerechte Hilfe für alle noch möglich, die dieser in der Region bedürfen?

Vor diesem Hintergrund ermittelte das Forum Soziale Gerechtigkeit in einem ersten „Digitalen Westerwald-Dialog sozial“ aktuelle Infos zum Thema „Psychiatrische Versorgung im Westerwald in Zeiten der Pandemie“. Zu ihrer Meinung gefragt waren auch Betroffene und Angehörige, die sich bei einer der üblichen Videokonferenzen oder Ähnlichem nicht einbringen können oder wollen und deshalb keine Stimme in der Pandemiezeit haben. Entstanden ist eine aktuelle Situationsbeschreibung des Hilfesystems in der Krise…und seiner Grenzen der Belastbarkeit.

Eines der wichtigsten Versorgungsangebote im Westerwaldkreis ist die Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Herz-Jesu-Krankenhaus in Dernbach. Trotz ausgefeiltem Hygienekonzept und aller ergriffenen Maßnahmen konnte dort in der Pandemie nur ein Teil der Behandlungsplätze belegt werden, was zu einer noch längeren Warteliste geführt hat. Auf einen in der Corona Krise noch erheblich gestiegenen Behandlungsbedarf weist zudem Chefarzt Frank Lücke hin: „Trotz vieler engagierter Fachärztinnen und Fachärzte, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, kann der Behandlungsbedarf bei psychischen Erkrankungen oft nicht abgedeckt werden. Sehr viele Menschen werden viel zu spät oder gar nicht behandelt“, so Lücke. Das sei auch eine Frage der Finanzierung und Kostenübernahme durch die Krankenkasse, die nicht immer reibungslos funktioniere und wo teilweise schon das Stellen eines Antrages für die betroffenen Hilfesuchenden zum unüberwindbaren Hindernis werde.

Umfassend in der Betreuung von psychisch Kranken tätig ist auch das Diakonische Werk im Westerwald. Besonders die Menschen im Betreuten Wohnen sind in dieser unsicheren Zeit auf intensive Unterstützung angewiesen, die aber nahtlos weitergeführt werden kann. Die Kontakt- und Informationsstelle (KIS) in Westerburg bietet weiterhin telefonische Beratung an, jedoch werden die offenen Angebote im Café im Marktplatz 8 von allen Beteiligten herbeigesehnt. Auch die Tagesstätte kann nach Einmietung in coronataugliche Räume wieder normal arbeiten und bietet den Besucher/innen eine gerade in der Krise hilfreiche Tagesstruktur. „Alles in allem haben wir alle Beratungsangebote aufrechterhalten können“, blickt DW-Leiter Wilfried Kehr hoffnungsvoll in die Zukunft.

Einen Versorgungsauftrag für den Westerwald hat auch die Rhein-Mosel-Fachklinik (RMF) in Andernach. Deren ärztlicher Direktor Dr. med. Ingo Weisker weist auf die Kontinuität des Behandlungsangebotes hin, die in der Pandemie keine Abweichungen des ambulanten Versorgungsangebotes für den Westerwaldkreis ergeben habe. Der Aufwand für die Versorgung der einzelnen Patienten habe sich wesentlich erhöht, die Arbeitsbelastung für die Mitarbeitenden sei deutlich gestiegen und einzelne Therapieangebote seien wegen hygienebedingter Vorgaben aktuell nicht mehr durchführbar. „Das Direktorium der RMF musste bisher aber keine Entscheidung treffen, um die Leistungen für die Versorgung der Patienten und Bewohnerinnen aus dem WW zu reduzieren“, so Dr. Weisker.

Auf die Schwierigkeit, in der Region aktuell einen Behandlungsplatz zu bekommen, weist Dr. Katrin Winterberg als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hin. Deshalb will sie ihre Elternzeit verkürzen, um schnell in einer Praxis in Hachenburg einteigen zu können. Mehrere Betroffene mit einer psychiatrischen Erkrankung haben darauf hingewiesen, dass es schwer bis unmöglich ist, zeitnah einen notwendigen ambulanten Behandlungstermin in einer Fachpraxis zu bekommen. „Trotz Überweisung mit einem speziellen Überweisungscode meiner Hausärztin ist auf längere Sicht kein Termin möglich“, so einer von ihnen, der wohl schon die Bemühungen eingestellt hat.

Im AZURIT Pflegezentrum Wiesengrund in Langenbach finden demenziell veränderte Menschen ein Zuhause. Dort ist die notwendige psychiatrische Versorgung derzeit nicht einfach, da die Zahl der Visiten und der persönliche Austausch deutlich eingeschränkt ist. „Der Arzt sieht seine Patienten seltener und ist auf die aussagekräftigen Auskünfte des Pflegepersonals noch mehr angewiesen als sonst“, meint Margit Hanowski als Hausleitung. Auch in den Caritas-Werkstätten Westerwald-Rhein-Lahn gibt es viele Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Aktuell sind 60 bis 70 Prozent der Werkstattbeschäftigten an den einzelnen Standorten (freiwillig) tätig und halten den Produktionsbereich stabil. „Die Situation der psychisch erkrankten Werkstattbeschäftigen ist sehr schwierig, aber die Versorgung mit eigenem Personal und bei Bedarf über zusätzliche telefonische Kontakte gesichert“, so Dagmar Theis als Leitung der Viweca-Arbeitsmarktintegration der WfbM. In unmittelbarer Nähe zum Zentrum der Stadt Selters betreibt die puraVita GmbH ein Wohnangebot mit 45 Plätzen für Menschen mit verschiedenen psychischen Erkrankungen. Geschäftsführer Martin Bollinger weist auf eine deutlich steigende Nachfrage nach Betreuungsplätzen in den angebotenen besonderen Wohnformen mit mehrmonatiger Wartezeit hin. „Ich kann das so erklären, dass die häusliche Situation durch Beschränkungen den Druck zu Hause hat steigen lassen und dadurch die Erkenntnis gereift ist, dass man dauerhaft mehr Unterstützung benötigt“, so Bollinger.

Besondere Auffälligkeiten bei der Versorgung im Westerwaldkreis während der Krise sind der Psychiatriereferentin des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Julia Schwaben, nicht bekannt. Es häuften sich landesweit die psychischen Auffälligkeiten und Störungen mit der Folge hoher Belastungen für die ambulant behandelnden Fachleute. Darauf, dass sich auch ambulante und stationäre Einrichtungen der Psychiatrie aktuell in einer Ausnahmesituation befinden, weist die Gewerkschaft Verdi hin. „Dabei sind viele der jetzt auftretenden Probleme nicht nur der Pandemie geschuldet, sondern haben ihre Ursachen in Fehlentwicklungen unseres Gesundheitssystems“, so die im Verdi-Bundesvorstand für das Gesundheits- und Sozialwesen zuständige Mitglied Sylvia Bühler. Welche Folgen sich daraus möglicherweise für die psychiatrische Versorgung im Kreis ergeben, wird die aktuell laufende Fortschreibung des Psychiatrieberichtes für den Westerwaldkreis zeigen.

Weitere Mitteilungen zum Thema sind gerne möglich an Forumssprecher Uli Schmidt unter uli@kleinkunst-mons-tabor.de. Alle Interessenten erhalten dann auch eine Einladung zu der (wann auch immer) geplanten Auswertungs-Veranstaltung zum Thema psychiatrische Versorgung. (PM)
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