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Nachricht vom 19.02.2023
Kultur
Buchtipp: "Es sollte so sein!" von Rainer Lemmer
Der beliebte Wanderführer und engagierte Natur- und Landschaftsführer Rainer Lemmer wirbt beständig für die Schönheit seiner Heimat Westerwald. Wenn es nach seinen Vorfahren gegangen wäre, wäre Lemmer Schlesier geworden. Aber der Krieg zwang die Urgroßeltern zweimal zur Flucht aus Breslau, so landeten Rainers Eltern letztlich im Westerwald.
Foto Cover: Wolfgang TischlerDierdorf. Anhand des handgeschriebenen Tagebuchs seines Urgroßvaters Paul Walter Lemmer hält der Autor die schmerzlichen Erlebnisse der Flüchtlinge "von Drüben" für die Nachwelt fest.

Ihren Anfang nahm die Flucht am 22. Januar 1945 mit Befehl zum Abtransport in der Breslauer Lohestraße nur mit tragbarem Gepäck. Vor den anrückenden russischen Streitkräften verließen Lemmers Urgroßeltern Paul Walter und Anna Maria Lemmer, ihre Schwiegertochter Emma Lemmer, ihr Enkel Manfred Lemmer - Rainers Vater - ihr schönes Zuhause.

Wurden die Urgroßeltern in der Lausitz noch als Gäste aufgenommen, so mussten sie am 21. Februar vor den anrückenden Russen ihre Flucht ohne Verpflegung im Viehwagen nach Westen fortsetzen. Vier Tage später wurden sie im Böhmerwald in kalten Räumen untergebracht, um Feuer machen zu können, mussten die betagten Leute im Wald Holz klauben. Die Rente wurde nicht überwiesen, Kartoffeln und Gemüse waren knapp, um das Wenige musste man stundenlang anstehen. Dazu herrschte die ständige Furcht vor den Tieffliegern der Amerikaner und marodierenden Russen oder Tschechen.

Die Flüchtlingstrecks aus den Ost-Provinzen mit völlig erschöpften Menschen und Tieren nahmen zu und es verbreitete sich das Gerücht, der Führer sei gefallen. Am 6. Mai 1945 schwiegen die Waffen. Die Breslauer wollten zurück in ihre schöne Heimat, obwohl die Stadt zerbombt worden war. Bei der anstrengenden, langen Rückkehr im Viehwagen und zu Fuß, wurden die Flüchtlinge immer wieder bestohlen. In den Trümmern fanden die Urgroßeltern, ihre Schwiegertochter Emma und der kleine Enkel Manfred eine nutzbare Wohnung. Doch Plünderungen und Belästigungen waren an der Tagesordnung. Um nach sechs Wochen endlich einen Bissen Brot zu erhalten, mussten die Lemmers arbeiten gehen und auf dem Schwarzmarkt Sachen verkaufen. Völlig mittellos geworden, versuchten die Lemmers durch Handwagen-Transporte und Papiersammlung für die Polen etwas Geld zu verdienen, weil es von keiner Seite Unterstützung gab.

Am 5. Juli 1946 begann der Abtransport ins Reich. Nach Durchsuchung und Entlausung wurden die Flüchtlinge in einen engen Eisenbahn-Wagon gepfercht. Am 11. Juli wurde den Lemmers in Reinshagen ein 15 Quadratmeter-Hinterzimmer zugewiesen. Bei den Hausbesitzern arbeiteten die Flüchtlinge in der Landwirtschaft für etwas Milch und Kohl. Die ehemaligen Städter mussten die Landarbeit erst erlernen und mit 72 Jahren musste der Uropa noch lernen, Wände zu verputzen. Da die Flüchtlinge in Not waren, wurden sie von den Bauern ständig ausgebeutet. Wenn sie nicht arbeiteten, bekamen sie auch nichts. Voller Zorn stellte der Uropa fest, dass die "frommen Bauern" selbst im Überfluss lebten, aber herzlos zu den Flüchtlingen waren, die sie als "Ostvolk" oder "polnische Säue" diffamierten. Durch die vielen "Hamsterer" aus den Städten wurden sie reich. Nicht alle waren so, Lemmers hatten es mit ihrer Bauersfamilie am übelsten getroffen.

Alle 14 Tage liefen die Lemmers nach Much, um auf Bezugsschein ein Stückchen Fleisch zu kaufen, Brot und Kartoffeln gab es bald gar nicht mehr. Als ehemalige Schrebergärtner kannten sie sich mit Gartenarbeit aus. Auf einem Stückchen Land zogen sie mit viel Fleiß ihr eigenes Gemüse zum Überleben. Wegen der schlechten Ernährung konnte das Ehepaar Lemmer nicht mehr die schwere Landarbeit ausüben, deshalb wollte die Familie die Flüchtlinge loswerden. Ein Umzug kurz vor Weihnachten 1948 in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Walterscheid mit eigenem Bad und die Währungsreform markierten den Beginn eines besseren Lebens.

Paul Walter Lemmer machte die schmerzlichen Erfahrungen, dass im Westen genau wie in Polen Bestechung und Korruption regierten, der Schwarzmarkt vor Gesetz und Nächstenliebe ging und Hilfe am ehesten von den Menschen kam, die selbst Verluste erlitten hatten.

Das anrührende, fast 80 Jahre alte, sehr persönliche Tagebuch hat durch den Ukraine-Krieg beklemmende Aktualität gewonnen.

Das Taschenbuch "Es sollte so sein! Wie meine Familie ihre Heimat verlor" von Rainer Lemmer ist unter der ISBN-Nummer 978-3-7549-4294-9 im Buchhandel erhältlich. (htv)
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