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Pressemitteilung vom 18.07.2024
Region
Veranstaltung zum demografischen Wandel: Auch der Westerwald altert im Rekordtempo
Wir sitzen alle in einem Boot - aber in welche Richtung wird dieses gesteuert? Darum ging es bei einer zukunftsweisenden Veranstaltung zum Thema "Die Altenrepublik - wie der demografische Wandel unsere Zukunft gefährdet".
(Foto: privat)Westerwaldkreis. Wohl allen ist inzwischen klar, dass das Land und auch der Westerwald viel zu schnell altern - mit vorhersehbaren Folgen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Wer aber erwartet hatte, dass der große Gesellschaftsraum des Seniorenzentrums Ignatius-Lötschert-Haus in Horbach die Interessierten nicht fassen konnte, die sich damit auseinandersetzen und gemeinsam nach Lösungen suchen wollten, sah sich enttäuscht: kaum 40 Leute waren gekommen. König Fußball bei der Europameisterschaft war wohl wichtiger als die Zukunftsfrage der Gesellschaft.

Die interessierten Gäste waren der gemeinsamen Einladung des Fördervereines der Einrichtung, dem VdK-Kreisverband, dem Generationenbüro der Verbandsgemeinde Montabaur und dem Netzwerk Senioren- und Behindertenrat (SBR) Westerwald gefolgt. Gespannt waren alle auf den einleitenden Vortrag von Soziologe und Autor Stefan Schulz, der zum Thema das bundesweit viel beachtete gleichnamige Buch geschrieben hat. "Man muss nur rechnen können, um zu merken, dass wir auf eine üble Situation zusteuern: Von den Boomerjahrgängen gehen insgesamt 18 Millionen Menschen in Rente, aber es werden nur elf Millionen volljährig", so Schulz. Welche gesellschaftlichen Verwerfungen das mit sich bringe, verdeutliche die Tatsache, dass bald jährlich 500.000 Menschen mehr in Rente gehen, als gleichzeitig ins Arbeitsleben eintreten. Es gehe jedoch nicht um einen unbezwingbaren Dämon, dem wir uns kampflos ergeben müssten: "Aber die historische Zäsur ist jetzt, unverzüglich, und sie ist ein politischer Auftrag für unsere Generation!", versuchte der Referent aufzurütteln.

Für die Veranstalter hatte Uli Schmidt (Horbach) zuvor als Moderator des Abends darauf hingewiesen, dass es nach dem letzten Weltkrieg nie so viele Krisen wie Ungleichheit, Klimawandel, Krieg, Neonazis, Pandemie, Energie und Fluchtbewegungen gleichzeitig gegeben hat: "Und jetzt droht uns mit dem demografischen Wandel auch noch unsere Innovationsfähigkeit, unser Wohlstand und unser Lebensfreude abhanden zu kommen", so Schmidt. In einem Grußwort wies Chris Martin als Heimleiter des gastgebenden Seniorenzentrums darauf hin, dass auch in der Altenpflege immer mehr die qualifizierten Arbeitskräfte fehlen: "Inzwischen brauchen wir teilweise fast zwei Jahre, um eine Fachkraftstelle neu besetzen zu können", so der erfahrene Pflegefachmann, der schon seit 20 Jahren im gleichen Haus im Buchfinkenland arbeitet und sich jetzt immer drängender mit den Auswirkungen der demografischen Schieflage auseinandersetzen muss.

Schwerpunkt des Abends war die Diskussion mit den Teilnehmenden. Prof. Dr. Klaus Kocks eröffnete diese mit dem Hinweis, dass die Menschen relativ fit älter werden: "Wir müssen Ältere mehr in die Pflicht und an die Hand nehmen, dann kann man viele auch im höheren Rentenalter noch gut für wichtige gesellschaftliche Tätigkeiten einsetzen", so Kocks. Dagegen halte er einen Pflichtdienst für Jüngere oder Ältere für unsinnig, das gehe nur, wenn alle gefordert werden.

VdK-Kreisvorsitzender Eckhard Kurz bemängelte, dass zu viele Ältere beim Eintritt ins Rentenalter keinen Plan haben, was sie tun wollen: "Das trägt dazu bei, dass sie keinen Draht mehr zum Ehrenamt haben, was dann dazu führt, dass von unserem VdK-Ortsverbänden im Kreis derzeit sieben ohne Vorstand sind", so der ehrenamtlich tätige Sozialfunktionär aus Heilberscheid.

Etwas andere Erfahrungen brachte Judith Gläser vom Generationenbüro der Verbandsgemeinde Montabaur ein: "Die Bereitschaft sich zu engagieren ist groß, es bedarf eines besonderen Formates, in dem sich Menschen selbstbestimmt und punktuell aktiv einbringen können", so Gläser. Das zeige sich in der Projektwerkstatt "Ich bin dabei!", wo seit 2015 Ältere in etwa 30 Angeboten ihre eigene Projektidee umsetzen.

Eine Teilnehmende meinte, der Staat müsse zu oft die Familie ersetzen, da diese bei der Erziehung überfordert seien. Mit Blick aufs Ehrenamt äußerte ein Mitarbeiter aus der Jugendarbeit: "Viele Jugendliche sehen Staat und Vereine kritisch, die muss man heranführen, sonst wird das nix".

Natürlich wurde auch leidenschaftlich über die Rolle der Politik und die drohende Demokratieentleerung im demografischen Wandel diskutiert. "Für Wahlkämpfer der Parteien kann man leider aus wahltaktischen Gründen nur die Empfehlung geben, das Budget nicht für die Jugend zu verschwenden", so Autor Schulz mit nachdenklicher Miene. Da es bald sechsmal mehr Wähler über 50 als solche unter 30 gebe, sei klar, wer künftig immer mehr die Wahlen entscheiden würde. Da gebe es für die Jüngeren eine dringende Notwendigkeit, nach neuen Methoden der gesellschaftlichen Partizipation zu suchen.

Auch über die Frage, ob es für junge Menschen (von denen niemand die Einladung zu dem Gespräch angenommen hatte) überhaupt noch eine gerechte Zukunft geben kann, wurde diskutiert. Stefan Schulz leitete dazu ein: "Die haben in ihren besten Jugendjahren Corona erlebt, sie sehen eine Welt in Flammen, für sie selbst mit vielen Lebensrisiken verbunden".

Weitere Themen waren die Sterbehilfe, der Umgang mit demokratiefeindlichen Parteien wie der AFD, die Pflege der Boomer, die Ehrenamtskarte oder die mögliche Hinwendung der Gesellschaft zu konservativen Werten sowie der Einsatz Künstlicher Intelligenz.

Zum Abschluss wurde darüber diskutiert, was im Westerwaldkreis gegen die im Rekordtempo alternde Gesellschaft getan und wie sich auch die kommunale Ebene intensiver vorbereiten kann. Alle lobten die Erstellung einer "seniorenpolitischen Konzeption" des Kreises, stimmten aber auch darin überein, dass unter Federführung der Seniorenleitstelle des Kreises in Kooperationen mit den entsprechenden Stellen der Verbandsgemeinden sowie geeigneten Organisationen und Verbänden konkrete Umsetzungsinitiativen gestartet werden müssen! "Darauf warten, dass irgendjemand schon die passenden Initiativen ergreifen und Lösungen suchen wird, ist in dieser bedrohlichen Situation kein zukunftsweisendes Handeln", appellierte Uli Schmidt abschließend an die politischen Gremien auf allen Ebenen. (PM)
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