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Nachricht vom 20.05.2015
Region
Wirges nimmt Flüchtling ins Kirchenasyl
Es ist der zweite Fall von Kirchenasyl im Dekanat Selters: Nach Höhr-Grenzhausen bietet auch die Evangelische Kirchengemeinde Wirges einem syrischen Flüchtling Schutz. Seit Ende April lebt der 42-Jährige für unbestimmte Zeit auf dem Grundstück der Gemeinde.
Kirchenasyl in Wirges. Fotos: privat.Wirges. Im Pfarrhaus versucht der Mann, nennen wir ihn Khalid, allmählich wieder zu Kräften zu kommen. Denn als er am frühen Morgen des 28. Aprils vor der Tür der Gemeinde steht, ist er in einer schrecklichen Verfassung: „Er wirkte völlig übernächtigt und komplett ausgemergelt“, erinnert sich Pfarrer Wilfried Steinke. Während Khalid seine Geschichte erzählt, steht ihm die Erschöpfung noch heute ins Gesicht geschrieben. Wenn er spricht, wirkt er außer Atem, geradezu gehetzt. Fast so, als sei seine absurde Flucht aus Syrien noch immer nicht zu Ende.

Dabei verbringt er viele gute Jahre in dem arabischen Staat. Als Maschineningenieur bei einer Ölfirma führt er mit seiner Frau und den beiden Kindern ein sicheres Leben, wie er sagt. Doch dann beginnt der Krieg, und alles wird anders. Islamische Kämpfer kontrollieren seinen Heimatort in der Nähe von Damaskus, aus dem Khalid mit seiner Familie fliehen muss. „Aber der Krieg wurde immer verrückter, und in entschloss mich, das Land zu verlassen“, erzählt er. Seine Frau und die Kinder bringt er vorher bei Verwandten in Sicherheit: Für sie wäre die Flucht viel zu riskant. Stattdessen will er sie später zu sich holen – nach Deutschland; ein gutes Land, von dem ihm einmal ein deutscher Austauschstudent erzählt hat: „In Deutschland werden die Menschenrechte akzeptiert. Das war für mich der Hauptgrund, hierhin zu kommen“, sagt Khalid.

Die Gedanken an ein besseres Leben mit seiner Familie geben ihm während seiner langen Flucht oft Kraft. Eine Flucht, die in einem stickigen Bus beginnt. Der bringt ihn bis in den Norden des Landes. Von dort aus geht er zu Fuß über die türkische Grenze. Dann: Weiter nach Istanbul und nach Izmir, von wo aus er per Schiff auf eine griechische Insel übersetzt. Weil er dort als „Illegaler“ gilt, stecken ihn die Sicherheitskräfte für mehr als zwei Wochen ins Gefängnis. Als er frei kommt, flieht er nach Mazedonien und ist mehrere Tage zu Fuß unterwegs. In Mazedonien zwängt er sich mit 40 Menschen in einen Minibus und fährt nach Serbien, wo er wieder inhaftiert wird. Als er schließlich frei kommt, flieht er weiter nach Ungarn. Und auch dort wandert er als illegaler Flüchtling ins Gefängnis. Außerdem unterschreibt Khalid ohne sein Wissen einen Asylantrag für Ungarn – ein Trick, der ihm in Deutschland zum Verhängnis wird. Als er aus dem ungarischen Gefängnis entlassen wird, schafft es Khalid doch noch, sich über Österreich nach Deutschland durchzuschlagen. Er ist ein „geduldeter Flüchtling“ und kommt in den Westerwald, nach Wirges. Dort weist ihm die Verbandsgemeinde eine Wohnung zu, in der Khalid seit Oktober 2014 lebt.

Am Ziel seiner Flucht ist er trotzdem nicht: Weil er in Ungarn einen Asylantrag unterschrieben hat, droht ihm nach dem Ende der Duldung am 13. April die Abschiebung in das osteuropäische Land – ein Staat, in dem Flüchtlinge nach Meinung von Hilfsorganisationen wie Pro Asyl unter teilweise unzumutbaren Bedingungen leben.

Im März 2015 wendet er sich an Pfarrer Steinke und bittet ihn um Hilfe. Der beruft den Kirchenvorstand zu einer Sondersitzung ein. Die Wirgeser Protestanten einigen sich darauf, Khalid nach der Duldung ins Kirchenasyl zu nehmen. Unterdessen legt sein Anwalt, der ihn damals vertritt, Einspruch gegen die Abschiebung ein. „Wir wussten, dass das wahrscheinlich aussichtslos ist. Aber dieser Schritt sollte aufschiebende Wirkung haben“, sagt Steinke. Kurz vor dem Ablauf der Duldungsfrist lehnt die Ausländerbehörde den Einspruch ab – und der Anwalt vergisst, die Gemeinde darüber zu informieren. Am frühen Morgen des 14. Aprils – keine sechs Stunden nach Ablauf der Frist – betreten Polizeibeamte die Wohnung des noch schlafenden Khalids und führen ihn ab. Wie viele Polizisten es sind, weiß er heute nicht mehr. Aber er erinnert sich noch gut an das, was er in diesem Moment fühlt: „Ich kam mir wie ein Schwerverbrecher vor. An diesem Morgen wollte ich nicht mehr weiterleben.“

Am Frankfurter Flughafen schreit ihn ein Beamter bei der Kontrolle an, er solle das deutsche Gesetz beachten. Khalid sagt, dass er das als Bürger dieses Landes gerne tun würde.

Ein Flugzeug bringt ihn zurück nach Ungarn. Dort landet er wieder in einem Flüchtlingscamp. Und wieder wird er genötigt, einen Asylantrag zu unterschreiben, Diesmal macht er’s nicht und erfährt daraufhin, dass er aus Ungarn ausgewiesen wird und nach Serbien zurückkehren muss: Um zwei Uhr nachts wird Khalid geweckt, aus dem Flüchtlingscenter gebracht und an irgendeiner verlassenen Straße ausgesetzt. Den Bahnhof, von dem aus ihn ein Zug ins Abschiebelager bringen soll, muss er selbst finden. Doch Khalid will nicht nach Serbien. Er will nach Deutschland. Und er versucht es noch einmal. Irgendwie gelingt es ihm, sich etwas Geld für die Reise zu leihen. Und tatsächlich steht er am Morgen des 28. Aprils vor dem Pfarrhaus in Wirges und bittet um Hilfe. Noch einmal.

Seitdem lebt Khalid im Pfarrhaus. „Er wohnt hier mit meiner Frau und mir, hat also Familienanschluss“, erzählt Wilfried Steinke und ist dankbar, dass ihn sein Höhr-Grenzhäuser Kollege Matthias Neuesüß gut auf die Situation vorbereitet hat. Heute sagt Steinke, dass diese Entscheidung sein Wille und seine christliche Pflicht ist. Und dass das Kirchenasyl hilft, Zeit zu gewinnen. „Wir haben eine neue Anwältin, die nun mit Hochdruck daran arbeitet, eine Duldung für Khalid zu erwirken.“ Ob aus der Duldung die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis wird, weiß niemand. Am allerwenigsten Khalid, der das rund 7000 Quadratmeter große Gelände der Gemeinde vorerst nicht verlassen darf. Seine kräftezehrende Flucht hat nun aber erst einmal ein Ende. Aber noch lange kein gutes: „Ich habe alles auf mich genommen, damit meine Familie dem Krieg in Syrien entkommt“, sagt er. „Alles habe ich verkauft, habe mir Geld geliehen; nur, damit meine Frau nun die Kinder in Sicherheit sind. Nun sind sie immer noch dort und ich bin hier. Ich fühle mich ohnmächtig.“ (bon)
 
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