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Nachricht vom 09.12.2016
Kultur
Adventsgeschichte: Die Gans Martina
Autor Ludwig Kroner hat 24 Adventsgeschichten im Buch "Kölsche Weihnachtsfreude" veröffentlicht. Mit dabei auch immer Rezepte, passend zu den Geschichten. Da sind viele Geschichten wirklich geschehen, nur die Namen sind geändert. Die Geschichte zum dritten Advent trug sich so vor vielen Jahren zu.
Foto: Helga Wienand-SchmidtWissen. Es sind 24 Adventsgeschichten, die mal heiter, mal traurig, zum Nachdenken anregen und viele davon sind zum Vorlesen bestens geeignet. Aber auch die Rezepte sind zum Kochen und Backen bestens geeignet. Mit Genehmigung des Autors Ludwig Kroner und der Edition Lempertz dürfen die Kuriere vier Geschichten veröffentlichen. Hier kommt die Geschichte zum dritten Advent:

Die Geschichte von Gans Martina
11. November, für die einen war Sankt Martinstag, für die anderen um 11.11 Uhr Beginn der Karnevalssession. Für die Jägerinnen und Jäger des Hegerings Rüdemann war es jedoch der Tag des Martinsschießens. Heute auf dem alten Schießstand am Deutzer Postweg schossen die Jäger nicht auf Wild, sondern auf Tontauben und Pappscheiben. Das Tontaubenschießen war absolviert und soeben war das „stehend Schießen“ auf die Rehbockscheibe beendet. Nach einer kurzen Pause trafen sich die Schützen an der Schießbahn “laufender Keiler“. Aufgabe war es auf 50 Meter Entfernung eine Scheibe in Form eines Wildschweines zu treffen. Die Schwierigkeit war, dass die Scheibe sich bewegte.

Toni war nun beim letzten Durchgang, den letzten fünf Schuss die alles entscheiden mussten. Das Ergebnis war: eine sieben, drei achter. Toni hatte die Büchse angeschlagen und wartete auf die Scheibe. Gleichmäßig bewegte sie sich von rechts nach links. Er zog mit dem Ziel mit, überholte es und drückte ab. Hermann, der die Scheibenanlage bediente, konnte sich ein „Weidmanns Heil, das war eine zehn“ nicht verkneifen. Nach einer kurzen Pause wurde das Ergebnis des Martinsschießens im Aufenthaltsraum des Schießstandes bekannt gegeben. Für die fünf besten Schützen hatte Thomas seinen Jagdgenossen je eine Gans gestiftet. Toni hatte sich keine Chance ausgerechnet. Doch plötzlich hörte er seinen Namen. „Den fünften Platz hat unser lieber Toni, der mit seinem letzten Schuss Herbert und Ludwig überholt hat. Der Thomas wird euch gleich draußen auf dem Parkplatz die Gänse geben.“

Toni wunderte sich, dass Thomas die Braten nicht hereingebracht hatte. Doch als er sich dessen Landrover näherte, erkannte er den Grund. Im Heck des Fahrzeuges befanden sich keine fünf Gänsebraten, sondern im eingebauten Hundekäfig schnatternden fünf schneeweiße, quicklebendige Gänse. Als Thomas die erstaunten Gesichter der anderen sah, meinte er grinsend: „Ihr alten Hasen werdet sie doch wohl selbst küchenfertig machen können. Das muss sogar jeder Jungjäger schon können.“

So stand Toni mit einer lebenden Gans unter dem Arm auf dem Parkplatz und überlegte, wie er das zuhause seiner Familie beibringen sollte. So zog Martina, eine Martinsgans muss Martina heißen, in das Haus in Porz-Libur ein. Genau genommen zog sie erst einmal in den Gartenschuppen, denn ihr Aufenthalt sollte ja nur bis Ende Dezember dauern. Weihnachten 25. Dezember sollte Martina als Braten die Hauptrolle beim Weihnachtsessen der Familie bekommen. Das Gänserezept hatte Angele, die Ehefrau von Toni, vor Jahren von ihrer Großmutter übernommen: Gans in Biersoße gefüllt mit Boskoopäpfeln, Maronen und Rosinen. Dazu gab es, dies gebot die Tradition, schlesische Klöße und Rosenkohl.

Die drei Töchter Susanne, Gunilla und Inga, vierzehn Jahre, elf Jahre und sieben Jahre alt, waren von Martinas Anwesenheit im Gartenhaus begeistert. Schon nach einer Woche hatte Susanne der Gans Martina beigebracht auf ihr Rufen zu kommen und nach einer weiteren Woche konnte sie schon an der Leine von Barry, dem Deutsch-Kurzhaar Rüden, Bei-Fuß gehen. Das größte Vergnügen bereitete Martina, wenn sie von Inga im Puppenwagen durch Libur gefahren wurde. Ohne dass es jemand bemerkte integrierte sich Martina in das Familienleben. Für Hund Barry war es bald selbstverständlich, dass das Tier, welches laut schnatternd durch den Garten lief, keine Jagdbeute war, sondern jemand, mit dem man wunderbar im Garten herumtollen konnte und der im Zweifelsfall auch sehr wehrhaft war.

Als „Wachhund“ war Martina unschlagbar und so mit Barry, dem die Wachhundgene komplett fehlten, ein perfektes Team. Wenn sich ein Fremder dem Garten näherte, lief Martina laut gackernd und Flügel schlagend zu Zaun, Barry trottete hinterher und schlug höchstens einmal kurz an. Bei Kindern verhielt sich Martina jedoch ganz anders. Sie war neugierig und immer zum Spielen aufgelegt. Wenn sie sich nicht genug beachtet fühlte, zupfte sie vorsichtig am Hosenbein und folgte vor allem Gunilla auf Schritt und Tritt. Als Martina eines morgens fehlte, wurde Mutter Beate schnell beruhigt. Frau Kleingarten, die Lehrerin von Inga meldete sich telefonisch und teilte mit, dass Inga Martina im Puppenwagen mit in die Schule genommen hatte. Frau Kleingarten hatte den Unterricht kurzerhand umgestellt und so war Martina an diesem Tag Hauptperson im Unterrichtsfach Sachunterricht/Naturkunde“. Frau Kleingarten beendete ihr Telefonat jedoch mit dem Satz: „Aber bitte nicht noch einmal.“

So näherte sich allmählich Weihnachten. Schon längst hatte Martina ihren Aktionsradius auf das Haus ausgedehnt. In der Küche schaute sie regelmäßig nach, ob Barry auch den Futternapf leer gefressen hatte und das Hundkissen neben dem Kachelofen hatte sie seit zwei Wochen als bevorzugten Ruheplatz ausgesucht. Im Stall im Gartenhaus war sie nur noch nachts.

So kam der 23. Dezember. Heute sollte Martina geschlachtet werden. Die Töchter Susanne, Gunilla und Inga waren nicht im Haus. Sie waren irgendwo mit Barry unterwegs. In den letzten Tagen war das Thema „Weihnachtsessen“ in der Familie peinlichst vermieden worden.
Toni hatte in der Küche alles vorbereitet. In einer Plastikwanne hatte er ein kleines scharfes Handbeil, eine Küchenrolle und sein Jagdmesser bereitgelegt. Toni hatte einen dicken Kloß im Hals, er musste schlucken. In seinen Augenwinkeln sammelte sich eine verräterische Flüssigkeit. „Toni, reiß dich zusammen. Seit 20 Jahren gehst du zur Jagd. Du wirst doch wohl eine Gans schlachten können“, sagte er laut zu sich selbst. Gleichzeitig hörte er jedoch in seinem Inneren eine Stimme: “Aber doch nicht Martina!“ Er gab sich einen Ruck, nahm die Wanne und ging in den Garten zum Schuppen, dem provisorischen Gänsestall.

Als er die Tür öffnete, erstarrte er. Vor ihm lag leise knurrend Barry. Er spürte die Situation. Er war bereit seine drei liebsten Menschen zu verteidigen, auch gegen den „Chef“ des Hauses. Dahinter standen sich an den Händen haltend die drei Mädchen, Susanne in der Mitte. Ihre Gesichter drückten Verzweiflung und Wut aus. Inga hielt ein Pappschild, welches an einem alten Besenstiel genagelt war, in der freien Hand. Die Worte sprangen im ins Gesicht: „Martina muss leben! Wir essen keine Freundin!“ Toni drehte sich um und ging mit schnellen Schritten zum Haus zurück. Seine Tränen konnte er nicht mehr zurückhalten. Fast hätte er Martina geschlachtet.

Seit diesem Ereignis hat die Familie ein neues Traditionsgericht für Weihnachten:
Würstchenallerlei (Wiener-, Regensburger- und Weißwürstchen) mit fränkischem Kartoffelsalat.

Mittlerweile ist die Familie gewachsen. Tonis Enkel laufen gerade zum mittlerweile ausgebauten Stall, in dem Martina und ihr Lebensgefährte Martin, der Ganter, leben. Heute wird gefeiert, denn Martina hat Geburtstag. Martina wird heute dreißig Jahre.

Nachtrag: Gänsebraten hat es in der Familie seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben. Im Buch ist das Rezept der Familie veröffentlicht.

Kölsche Weihnachtsfreude, 24 Adventsgeschichten von Ludwig Kroner. Das Buch ist erschienen im Verlag Mathias Lempertz, Königswinter, Edition Lempertz, 119 Seiten, ISBN 978-3945152-61-4, kostet 14,99 Euro und ist über den Buchhandel zu beziehen.
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