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Nachricht vom 18.07.2021
Region
1984: Das Sieg-Jahrhunderthochwasser
Nur knapp entgingen der Westerwald und das Siegerland den stärksten Regen-Mengen, die woanders zu katastrophalen Zuständen führen sollten. Wenn auch die Auswirkungen nicht so drastisch waren wie in den aktuellen Unwetter-Gebieten, so werden Erinnerungen an 1984 wach - als ein bis heute als Jahrhundertereignis eingestuftes Hochwasser Betzdorf und Umgebung flutete.
Im Februar 1984 stürzte das Jahrhundert-Hochwasser die Region ins Chaos. Das Foto gibt einen Blick auf Hellerstraße, die sich in einen See verwandelt hatte. Weitere Fotos siehe unter Artikeltext. (Foto-Quelle: Betzdorfer Geschichtsverein/Gerd Bäumer)Betzdorf 1984. Man mag seinen Augen kaum glauben: Wasser, Wasser, Wasser. Große Teile Betzdorfs ein See. Bilder wie aus einem Katastrophenfilm.

Autos, deren Dächer knapp aus den Wassermassen ragen, die Kölner Straße hat sich in einen Fluss verwandelt, weiter oben die Wilhelmstraße in einen kräftigen Bach, die Linde oder der Breidenbacher Hof stehen knietief unter Wasser, Geschäfteinhaber versuchen auf Schlauchbooten durch die stinkende Brühe zu paddeln, um in ihren Läden festzustellen, wie wenig zu retten ist.

Über 36 Jahre ist es her, als das Jahrhunderthochwasser Betzdorf und Umgebung flutete. Diese Geschichte handelt davon, wie die Sieg-Fluten eine Region ins Chaos stürzen und was eine solche Katastrophe aus Menschen macht.

Der Scheuerfelder Matthias Rötter war im Februar 1984 gerade mal 22 Jahre alt. Er leistete seinen Wehrersatzdienst beim Technischen Hilfswerk ab – einem der zahlreichen Hilfseinrichtungen, die versuchten, das Schlimmste zu verhindern im Kreis Altenkirchen, darunter die Feuerwehr, die mit 600 Mann und 80 Fahrzeugen im Kreis in Einsatz war, dem Roten Kreuz, dem DLRG, einem Öllöschzug aus Rennerod und Bundeswehrsoldaten.

Am Vormittag: Katastrophenalarm

Obwohl mittlerweile Jahrzehnte vergangen sind, bewegen die Ereignisse von damals den Familienvater immer noch. Während er erzählt, hämmert der eigentlich in sich ruhend wirkende Rötter immer wieder mit der Faust auf den Tisch, um sein Gesagtes zu unterstreichen. „Es hat geregnet ohne Ende“, beschreibt Rötter das Vorspiel zur Flut, die bis zum Dienstag, den 7. Februar 1984, Betzdorf in eine stinkig-braune Wassermasse getaucht haben sollte.

Und die Rhein-Zeitung schrieb damals: „Nach nassen Wochen öffnete ein dunkler Himmel am Sonntagnachmittag seine Schleusen bis zum Gehtnichtmehr. Und die Sturzbäche von oben suchten sich ausgerechnet Betzdorf samt Umgebung als Zentrum aus.“ Innerhalb von 24 Stunden war etwa ein Zehntel des gesamten Jahresregens niedergeprasselt.

Gegen 10.30 Uhr am Dienstagvormittag löste der Landrat den Katastrophenalarm aus.

Matthias Rötter war da längst im Einsatz. Das Hauptaugenmerk lag auf der „Kolonie“ entlang der Kölner Straße. „Wie eine Badewanne muss man sich das vorstellen.“ Auf der Höhe der damals noch existierenden Filiale von Eisenmuscheid sei es trocken gewesen, ab dem Modegeschäft Burghaus sammelte sich dann dagegen wieder das Wasser.

Gegen 23 Uhr war Rötter in der Montagnacht zur Unterkunft des Betzdorfer THW gerufen worden, die glücklicherweise selbst von den Wassermassen verschont blieb. Immerhin hatte der Damm entlang der Sieg bei der Gärtnerei Schultheis dem Druck der Wassermassen nicht mehr Stand gehalten. So stand auch die Industriestraße unter Wasser. „Es ist der Wahnsinn gewesen.“ Aber die THW-Unterkunft – um ihr floss die Brühe schlicht vorbei, wie sich Rötter erinnert.

Schlauchboote vor dem Rathaus

Die Einsatzzentrale des THW bei einer solchen Katastrophe unter Wasser? Man mag sich kaum ausmalen, wie sehr das die Einsätze behindert hätte. So wurden die THWler in Gruppen aufgeteilt. Erste Anlaufstelle: der Sandberg über dem Autohaus Weeser. Er dient als Quelle für unzählige Sandsäcke, die von den Helfern gefüllt worden sind. Per LKWs wurden sie runter zur „Kolonie“ transportiert, um damit Kellerschächte und Eingangstüren vor den Wassermassen zu schützen.

Konrad Klein war ebenfalls in diesen Katastrophentagen als THW-Helfer im Einsatz. Er erinnert sich gut an die Jahrhundertflut, erzählt aber im abgeklärten Ton eines pensionierten Beamten in Leitungsfunktion, der zudem für den Katastrophenschutz verantwortlich war.

Im Februar 1984 war der 31 Jahre alte Klein stellvertretender Orts- und Kreisbeauftragter und bereits seit 1967 im Betzdorfer Rathaus. Dass neben der „Kolonie“ auch andere Bereiche betroffen waren, entwickelte sich erst später, erinnert sich Klein. Der Heller-Rückstau hatte schließlich dazu geführt, dass die Hellerstraße zu einem Fluss wurde. Und mittendrin: das Rathaus samt damaligen Anbau („Maggi-Würfel“). Er stand rund einen halben Meter unter Wasser. Das könnte heute so nicht mehr passieren. Denn die Hochwasser-Erfahrungen 1984 führten schließlich dazu, dass die Fundamente des heutigen Anbaus höher gelegt wurden. Vor über 33 Jahren blieb dann aber nichts anderes mehr übrig, als die Möbel aus Pressspan nach dem Hochwasser schlicht zu entsorgen.

Als sich abzeichnete, dass die Verwaltung bald Opfer der Fluten werden sollte, versuchte man immerhin zügig Fahrzeuge und Akten aus dem unteren Geschoss in Sicherheit zu bringen. Nicht zu vergessen die Rathaus-Mitarbeiter. Um 9 Uhr am Dienstagmorgen war der Wasserpegel so hoch, dass die Verwaltungsbediensteten nur noch auf Schlauchbooten des THWs in Trockene gebracht werden konnten.

Siegparkplatz stand einen Meter unter Wasser

Mittlerweile hatte sich auch ein Krisenstab im Gebäude der Betzdorfer Schutzpolizei gebildet. Neben dem Bürgermeister Rudolf Schwan und den Verantwortlichen von Feuerwehr, THW und Verwaltung gehörte auch der stellvertretende Inspektionsleiter der Betzdorfer Schutzpolizei, Karl Kipping, der Runde an. Zusammen mit Landrat Dr. Alfred Beth stieg der Hobbypilot in einen Hubschrauber, der über einen Kontakt in Winningen organisiert worden ist. Sie wollten sich einen Überblick verschaffen. Flugzeuge kamen nicht infrage aufgrund der Wetterbedingungen. Ihnen muss sich ein schockierendes Bild geboten haben:

Unzählige Straßen, darunter die Ausfahrstraßen Richtung Herdorf, Daaden, Kirchen und Wissen waren gesperrt, waren wegen Überschwemmung gesperrt, wie die Siegener Zeitung berichtete. Die Bahnstrecke war die einzige Verkehrsverbindung durch das Siegtal. Ein Alsdorfer Pendler erzählte der Zeitung, dass man mit dem Auto „ganz hilflos“ gewesen sei.

Das effektivste Fortbewegungsmittel hieß nun in vielen Bereichen Schlauchboot. So ist in der Kolonie nur noch Bootsverkehr möglich, teilweise noch nicht einmal das. Nur wenig Abstand blieb zwischen Wasserspiegel und Siemag-Brücke. Der Siegparkplatz: er stand einen Meter unter Wasser. Die Siegener Zeitung schrieb: „Die braune Brühe schwappte dann über die Wilhelmstraße bis zur Bismarck- und Schützenstraße.“

Auch die Lebensmittelabteilung im untersten Geschoss des Aka-Kaufhaus verschonten die Fluten nicht. Eineinhalb Meter stand das Wasser. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, was sich in und um das mittlerweile abgerissene Kaufhaus in Betzdorf abgespielt haben muss. Die Zeitungen schrieben von Menschenmassen und Riesengedränge. Im gefluteten Lebensmittelmarkt versuchten Helfer Kassen, Geräte und Lebensmittel, vor allem Tiefkühlware, zu retten. Auch hier muss man sich Schlauchboote vorstellen, auf wahrscheinlich dreckigen Wassermassen, wo überall Gegenstände herumschwimmen. Sogar mithilfe von Tauchanzügen wurden Bergeversuche unternommen. Feuerwehrleute aus Katzwinkel halfen unermüdlich den Mitarbeitern und Freiwilligen so lange bis das Benzin ausgegangen war.

Bundeswehrsoldaten halfen

Einige Passanten entschlossen sich ebenfalls mitanzupacken – zum Unmut des damaligen Geschäftsführers des Kaufhauses, Kay Friese. Denn nicht jeder der spontanen Helfer handelte uneigennützig. Manch einer nutzte die Situation aus und klaute dreist Waren. Vor allem Spirituosen und Tabakwaren erfreuten sich großer Beliebtheit bei den Dieben. Im Chaos und Riesengedränge, das ein solch krasses Szenario mit sich bringt, war es unmöglich, den Tätern nachzulaufen.

Gedränge herrschte ebenfalls „oben“. Die geretteten Waren wurden dort zu Billigstpreisen als „Hochwasser-Sonderangebote“ verkauft. Eine riesige Menschenmenge nutzte diese Gelegenheit. Oben Schnäppchenjäger, die Katastrophen-Sonderangebote ausnutzen. Unten Diebe, freiwillige Helfer und aufopferungsbereite Einsatzkräfte.

Ein weit weniger gegensätzliches Szenario präsentierte sich flussabwärts in den Hallen von Wolf-Geräte, die ebenfalls von der mutierten Sieg nicht verschont blieben. Es galt Saatgut und Düngemittel zu retten und Schaden von Geräten abzuwenden. Im Lager hatten sich die unteren Kartons der Pappe-Türme aufgeweicht, so dass alles zusammenbrach.

Die 280 Mitarbeiter meldeten sich freiwillig zu Ablösungen und Sonderaufgaben. Ein Wolf-Angestellter sagte der Rhein-Zeitung: „Ich arbeite nicht, sondern versuche zu helfen.“ Unterstützt wurden die Wolf-Mitarbeiter von 60 Bundeswehrsoldaten. Unterstützung kam auch von den benachbarten Schäfer-Werken. Das Unternehmen stellte Ausweichflächen zur Verfügung.

„Es gab Frost – Gottseidank – heftigen Frost!“

Wolf, die Lebensmittelabteilung im Aka, ja viele Geschäfte insbesondere in der Wilhelmstraße oder die heute fast vergessene Firma Patt & Dilthey – für sie war das Jahrhunderthochwasser ein tiefer wirtschaftlicher Tiefschlag.

Aber Verletzte oder gar Tote forderte die Jahrhundertflut nicht ein. Das soll nicht darüber hinweg täuschen, dass die Folgen des Hochwassers den Menschen auch finanziell noch lange Sorgen bereitet haben werden. Geld von Versicherungen hatten sie in der Regel kaum zu erwarten. Immerhin: Die Betzdorfer übten sich in Solidarität. Schnell wurden Spendenkonten eingerichtet – erfolgreich.

Und auch wenn die Umwelt verrücktspielte – die Menschen taten es nicht. „Die Leute waren dankbar und froh, dass einer hilft“, erinnert sich der THW-Helfer Rötter. Sie hätten die Umstände hingenommen. Man muss hierbei auch bedenken: Strom, Gas, Ölheizungen waren größtenteils ausgefallen, ebenso die Telefonleitungen, die Kläranlagen auch.

Vielleicht hatten die Menschen schlicht keine Zeit, in Sorgen zu versinken. So schnell wie das Hochwasser gekommen war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Gegen 15.30 Uhr am Dienstag wurde der Katastrophenalarm wieder aufgehoben. „Es gab Frost – Gottseidank – heftigen Frost!“, erzählt Rötter. In der Nacht sei das Wasser bestimmt einen Meter gefallen. Die Aufräumarbeiten dauerten mehrere Tage. (ddp)

Videoaufnahmen zeigen die Folgen des Jahrhunderthochwassers in Betzdorf:



Der Autor dankt:
... Gerd Bäumer vom BGV, der für ein längeres Gespräch zur Verfügung stand sowie Fotos und die digitalisierten Videoaufnahmen beisteuerte. In diesem Zusammenhang danke ich auch Thomas Nolden, der die Veröffentlichung der Videoaufnahmen an dieser Stelle erlaubte.
... Matthias Rötter und Konrad Klein für ihre Bereitschaft, mir ausführlich von ihren Erlebnissen zu erzählen und Hintergründe zu erklären.
... den Mitarbeitern der Universitäts-Bibliothek Siegen, die mir geduldig erläuterten, wo ich alte Zeitungsausgaben finden kann.
... Gerhard Schlosser von der Regionalstelle Montabaur der Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord, der mir zügig Fotos schickte.
     
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