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Nachricht vom 05.04.2019 |
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Historiker Andreas Rödder: Moralisierung ist Gift für demokratischen Diskurs |
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Klartext sprach Professor Dr. Andreas Rödder (Mainz) in seiner Heimatstadt Wissen, als er anlässlich der 18. Westerwälder-Literaturtage im Dialog mit Moderator Michael Au am Donnerstagabend (4. April) im Kulturwerk der Frage nachging: „Wer hat die Angst vor Deutschland?“ So steht es auch auf einem Deckel eines Buches des renommierten Historikers, der eloquent, kurzweilig und historische Zusammenhänge und Gegebenheiten erörternd die 130 Besucherinnen und Besucher fesselte. |
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Wissen. „Eigentlich alle“: Die Antwort von Professor Dr. Andreas Rödder fiel kurz und bündig aus, als Moderator Michael Au eingangs Rödders Buchtitel aufgriff und fragte: „Wer Angst vor Deutschland hat?“ Es blieb aber nicht bei dieser kurzen Antwort, ganz im Gegenteil. Bei dem doppelten Heimspiel – Rödder und Au sind beide gebürtig aus Wissen – ging der Professor historisch und analytisch an das Thema heran, verdeutlichte Hintergründe und Zusammenhänge und spannte dabei den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart und zurück. Es war alles andere als ein staubtrockener Vortrag über Geschichte. Eloquent skizzierte Rödder, seit 2005 Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Fakten und Daten aus den Jahrzehnten, die er in einer verständlich und nachvollziehbaren Art und Weise aufgearbeitet erzählte, und hintergründig. Interessiert hörten die Menschen zu. Einige Male kam Zwischenbeifall auf.
Was führt Deutschland im Schilde?
„Er urteilt statt zu raunen“: So hatte Au den „bekennenden Konservativen“ vorgestellt, und das bestätigte der Abend, der in einer Interviewform mit Frage und Antwort daher kam. Als „Historiker der Stunde“ habe der Berliner Tagesspiegel im Februar 2017 Rödder bezeichnet, leitete Moderator Michael Au in den Abend ein. „Es ist wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche passiert“, so habe es Aristoteles gesagt, warf Rödder schmunzelnd ein. „Ein Mann mit senfgelben Haaren rumpelt sich durch die Welt“, führte der Moderator weiter aus, und der „Historiker der Stunde“ spreche Klartext – und davon konnten sich die Besucherinnen und Besucher überzeugen. Deutschland könnte zur neuen Vormacht in Europa werden: Wer so gedacht habe, könnte sich bestätigt sehen, griff der Buchautor und Historiker die Ausgangsfrage auf, zum Beispiel weil Deutschland bei der Schuldenkrise auf die Verträge beharrt habe. Nie wisse man, was Deutschland im Schilde führe, und es sei sprunghaft. Kritiker könnten sich bewahrheitet sehen, sagte der Professor, der auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückblickte.
1914 sei Deutschland mit Abstand der stärkste europäische Staat gewesen, auch wirtschaftlich, sagte Rödder, der erinnerte, wie es sich nach Ende des Ersten Weltkrieges darstellte. 100 Jahre danach sei Deutschland wieder da, wo es 1914 war, das stärkste Land auf dem Kontinent – und: „Es ist eine Geschichte, die den Nachbarn und Deutschland nicht ganz geheuer ist.“ Diese historische Perspektive erkläre er in seinem Buch. Rödder beleuchtete auch die Außenwahrnehmung, bei der es mindestens zwei Mal Deutschland gebe: Das eine seien Dichter und Denker, das andere Militär und Pickelhaube. Der Redner erinnerte an das „große Trauma“ der Franzosen von 1870 bei der Niederlage von Sedan, ebenso an den Hitler-Stalin-Pakt. Die Sorge vor einer deutschen Vormacht sei, dass Deutschland sprunghaft sei, man nie wisse, was es als Nächstes tun werden.
In den 1980er-Jahren sei die Rede von der „deutschen Atombombe“ gewesen, die sich auf Deutsche Mark, Zinshoheit der Deutschen Bundesbank und Wirtschaft bezogen habe. „Wir müssen diese Atombombe entschärfte“, sei die Meinung gewesen, sagte Rödder, und erinnerte an die Währungsunion. Bei seinem gedanklichen Gang durch die Geschichte skizzierte er die Frage, wie sich das wirtschaftlich rückständige Deutschland einst zur wirtschaftlichen Weltmacht emporschwingen konnte, unter anderem mit Stahl- und Chemieindustrie. Er sprach aber auch von der verheerenden „Fünf-vor-Zwölf-Panik“, die 1914 in den ersten großen Massenkrieg, eine „Zivilisationskatastrophe“, führte. Als sich am 7. Mai 2010 die Staats- und Regierungschefs zur europäischen Rettungsaktion getroffen hätten, sei das Gegenteil von 1914 geschehen, denn man habe miteinander gesprochen, statt sich wie einst in der eigenen Echokammer einzusperren.
Keine Zeit für Befindlichkeiten
Unglaublich rasch habe Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Staatengemeinschaft gewollt, sagte Au, und Rödder konstatierte: Westdeutschland habe von dem Ausbruch des Kalten Kriegs profitiert. Dieser sei eine konkrete Ursache für die Befriedung Westeuropas gewesen, für die Befindlichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich habe man keine Zeit gehabt. Ohne die harte Hand der Amerikaner und den Kalten Krieg hätte es keine Stabilisierung und kein wirtschaftliches Wachstum gegeben, befand der Historiker, der hier den Querverweis zu 1918/19 machte, als es ganz anders gewesen sei. „Selbstbehauptung durch Selbstbeschränkung“, so Rödder, der an Montanunion, Römische Verträge und Beitritt zur Nato erinnerte: Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht.
Bei dem kurzweiligen Abend wurden viele Themen angesprochen und beleuchtet, auch die Frage, wie politisch verlässlich dieses starke Deutschland sei. Deutschland fehle eine europäische und internationale Strategie, antwortete der Historiker. So sei es Deutschland, das sich einer gemeinsamen Energiepolitik verweigere. Er erwähnte auch, dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron auf seine politische Vorstellung über die Entwicklung der Europäischen Union zwei Mal keine Antwort erhalten habe. Für ihn ist es auch keine kluge Lösung, die zwei Prozent Verteidigungsausgaben vom Bruttoinlandsprodukt abhängig zu machen, sagte Rödder, der meinte, dass die Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses deutlich mehr als sicherer Partner auftreten müsse. Moderator Au fragte auch, ob spätere Historiker einmal sagen werden könnten, dass das Flüchtlingsjahr 2015 der Anfang vom Ende des europäischen Einigungsprozess gewesen sein wird? „Sei dir nie zu sicher, alles ist möglich“, antwortete Rödder, der betonte: „Wie es mit der europäischen Geschichte weitergeht, das halte ich mir offen.“ Ob sich die Krise in einen Integrationsschub kehre oder es der Anfang vom Ende sei, das sei ungeklärt. Bei dem gedanklichen Weg durch die Geschichte und die Jahrzehnte, stellte der Historiker auch heraus, dass sich im frühen 19. Jahrhundert die europäischen Länder als Nationen begriffen hätten. Deutschland habe aus über 40 Einzelstaaten bestanden und sich vor dem deutschen Staat als Kulturnation verstanden. Dies laufe jedoch Gefahr zu einem moralischen Überlegenheitsgefühl zu werden. Das sei im Herbst 2015 zu spüren gewesen.
Deutschland müsse eine Führung ausüben, aber mit Rücksicht auf andere, betonte Rödder. Anschaulich verdeutlichte er, was Rücksichtnahme bedeutet, die Befindlichkeiten des anderen ins eigene Kalkül einzubeziehen. So gebe es auch völlig unterschiedliche Ordnungsvorstellungen bei der Europäischen Union: Für Macron sei dies Solidarität, Vergemeinschaftung und Transfer, die deutsche Auslegung ziele unter anderem auf Wettbewerb ab. Es müsse eine europäische Debatte geführt werden, welches Europa „wir“ wollen, sagte Rödder: „Gute Kompromisse setzen eine Debatte voraus.“
Robuste Diskussion und Auseinandersetzung
Auf die Frage, dass eine Partei wie die AfD in die Parlamente komme und Unbehagen aufkomme, schilderte Rödder seinen Eindruck: Europa habe eher den Eindruck, dass „Deutschland davon spät erfasst wurde.“ Er betonte aber, dass es ausgehend von Artikel 1 des Grundgesetzes über völkisches Denken und die Verharmlosung von Nationalsozialismus und Holocaust „nichts zu diskutieren“ gebe. „Jenseits dieser Grenze, im Diesseits“ helfe nicht moralische Empörung: „Ausgrenzen nützt nichts.“ Er sprach sich für eine „robuste Diskussion und Auseinandersetzung“ aus.
Anderthalb Stunden hörten die Besucherinnen und Besucher interessiert Rödder zu, der meint: „Moralisierung ist Gift für demokratische Auseinandersetzung.“ Man müsse Positionen anderer nicht teilen, „aber für legitim und gleichwertig erachten“, sagte der Autor, der als „bekennender Konservativer“ herausstellt, dass konservative Werte nie schlecht seien. Im Kern gehe es darum, einen Wandel so zu gestalten, dass die Menschen mitkommen. Auf dem Podium sagte er auch: „Wir brauchen wieder vitale, wiederbelebte Volksparteien.“ Rödder, selbst CDU-Mitglied, erinnerte an den Bundesparteitag, als Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigt hatte, dass sie nicht mehr für den Parteivorsitz kandidieren werde – und: „Wie die CDU eine frische in der Debattenkultur entwickelt hat“.
„Ein wunderbar spritzige Diskussion“, bilanzierte Maria Bastian-Erll, Programmleiterin der Westerwälder Literaturtage. Bei der Begrüßung hatte sie schmunzelnd erwähnt, dass Professor Rödder schwer zu erreichen sei, und sich gefreut, dass er nach Wissen gekommen sei, wo er seine Wurzeln habe, seine Heimat, was Rödder aufgriff: „Sie rufen, dann komme ich.“ Die Leiterin freute sich auch über die gute Resonanz auf die Veranstaltung. Die Programmleiterin hatte etliche Lehrer von Rödder und Au im Publikum ausgemacht und sagte in Richtung Podium: „Sie sind sehr stolz auf Euch.“ Bastian-Erll hatte Moderator Au kurz vorgestellt, der aktuell Literatur- und Theaterreferent des Landes Rheinland-Pfalz ist. Mit dieser Veranstaltung habe man das Pulver noch nicht verschossen, betonte sie, und hob hervor, dass man für die weiteren 27 Veranstaltungen noch ein „richtig schönes Programm“ habe.
Wie ein Klassentreffen
Im Anschluss kamen zahlreiche Menschen an das Podium, sprachen mit Rödder, auch ehemalige Lehrer, zum Beispiel der Deutsch- und Geschichtslehrer Peter Tornau. „Es war wie ein Klassentreffen“, schmunzelte Au, der ebenfalls das Kopernikus-Gymnasium in Wissen besuchte. Für die Besucher signierte Rödder seine Bücher und war sichtlich erfreut, mit Menschen aus seiner Heimatstadt sprechen zu können.
„Deutschland müsse mehr für die europäische Ordnung tun“, sagte Rödder im Gespräch mit dem AK-Kurier. Dies müsse auf unterschiedlichen Ebenen geschehen, finanziell und politisch. Für ihn wichtig ist dabei auch die Frage: „Wie gehe ich mit anderen um?“ Wenn Deutschland klein wird, dann entstehe eine Lücke, verdeutlichte er. (tt)
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